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Lesebericht: Kerstin Kohlenberg, Das amerikanische Versprechen

Verfasst von Heiner Wittmann
5.8.2024

Kerstin Kohlenberg, die als Korrespondentin der ZEIT lange Jahre aus den USA berichtet hat, untersucht in ihrem Buch »Das amerikanische Versprechen« mit dem Untertitel »Vom Streben nach Glück in einem zerstrittenen Land« markante Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft, die sie in ihrer Zeit in den USA zwischen 2014 und 2021 beobachtet hat. Joan Didion hatte einst gesagt: „Die Mitte hält nicht,“ und meinte die Verwerfungen der 60er Jahre mit den Demos gegen den Vietnamkrieg und die Polizeibrutalität.

Kohlenberg hat in den USA bis 2021 den Vertrauensverlust der Menschen in die Institutionen der amerikanischen Demokratie beobachtet, der sich darin zeigt, dass immer weniger an faire und freie Wahlen geglaubt wird bis hin zum Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021. Analysten haben viele Faktoren untersucht, die von der Globalisierung, über Arbeitslosenzahlen, die Qualität von Bildungsabschlüssen, bis hin zu den Migrationsströmen und anderen messbaren Veränderungen bestimmt werden.

Lesebericht: Kerstin Kohlenberg, Das amerikanische Versprechen

Die wirklich entscheidenden Veränderungen, nämlich die emotionaler Natur, werden, so Kohlenberg, nicht erfasst. Zum Beispiel der Stolz auf das eigene Land, und wie dieser durch Kränkungen aber auch durch Gewalttaten auch seitens der Polizei verletzt wird. Auf der Suche nach Gründen für die Erosion der Mitte und für enttäuschte Hoffnungen hat Kohlenberg 2023 drei Menschen getroffen: Stephen, der am 6. Januar bei der Erstürmung des Kapitols in vorderster Linie mit dabei war; Walter, einen der bekanntesten Black-Lives-Matter- Aktivisten von New-York und die Latina Magali. Kohlenberg hat sich entschlossen, die Lebensgeschichten, die sie sich von ihnen hat erzählen lassen, aufzuschreiben. Tatsächlich helfen diese Biographien dabei, Amerika im Wahljahr 2024 besser zu verstehen. Zum einen gibt es die Fragen, wie die USA als größtes Einwanderungsland der Welt, auch in historischer Hinsicht, heute mit der Migration umgeht, welche Hoffnungen es auslöst und wie es Migranten aufnimmt? Und da ist auch die Frage, wie es den Demokraten gelingen konnte, junge Schwarze von sich zu entfremden und wie es Donald Trump schaffen konnte, die Republikanische Partei für sich zu kapern?

Alle drei Menschen in Kohlenbergs Buch haben auf verschiedene Arten das Vertrauen in die Politik verloren. Magalis Geschichte erläutert die Auswirkungen der US-amerikanischen Einwanderungspolitik, Walters Biographie wird bestimmt durch die Desillusion hinsichtlich der Gerechtigkeit und der Polizeibrutalität und seinen Einblick in die Aktivitäten linkspopulistischer Aktivisten. Stephen hat die Armut überwunden und beobachtet den Aufstieg rechtspopulistischer Politiker lässt sich aber dann doch von ihnen vereinnahmen. Zusammengenommen lesen sich ihre Biographien wie eine soziologisch geprägte Analyse der letzten zehn Jahre US-amerikanischer Sozialpolitik, die ihre Versprechungen nicht einhalten konnte, deren Polizei in gewisser Form immer rassistischer wurde. Und Kohlenberg beschreibt, wie die Demokraten den Kontakt zu den weißen Arbeitern verloren haben, weil sie sich für Armut nur noch interessierten, so Stephen, wenn sie Schwarze oder Latinos betraf. Es sind solche Stimmungen, denen Kohlenberg mittels der drei Biographien in diesem Buch nachgeht. Die These: Emotionen, Gefühle und Stimmungen führen die Wähler dazu, für die Republikaner zu stimmen, weil sie meinen, dass ihre Sorgen von ihnen besser verstanden werden.

Diese drei Biographien mit ihren so wechselvollen Geschichten und Stationen werden auch von der politischen Entwicklung in den USA geprägt. Zugleich zeigt Kohlenberg immer wieder, wie Stephen, Magali und Walter mit ihrem persönlichen Engagement an Grenzen stoßen. Verstimmungen und Frust entstehen. Auf diese Weise beschreibt die Autorin ein System von Wechselwirkungen, aus denen sich ein ziemlich klares Bild ergibt, mit dem der Aufstieg der Republikaner und der Populismus eines Donald Trumps gedeutet werden kann. In dieser Hinsicht löst Kohlenberg ihr Versprechen ein, dass nicht allein statistische Zahlen, sondern auch Emotionen wie auch so ganz persönliche Schicksale die Perspektiven im Wahljahr 2024 besser erklären können.

Stephen, als er in der Nacht vom 5. auf den 6. Januar 2021 nach Washington fuhr, gehörte auch zu denjenigen, die glaubten, dass man Trump die Wahl gestohlen habe und nun glaubte, Amerika befreien zu müssen. Magali wurde 1991 geboren und gehörte zu den erfolgreichen Einwanderern: drei Jahrzehnte später sitzt sie in ihrem eigenen Haus in Iowa. Stephen erlebte, wie die staatliche Direkthilfe gekürzt wurde, und dass die Bekämpfung der Armut scheiterte. In der Bronx gewann 1993 der Republikaner Rudy Giuliani die Bürgermeisterwahl; danach verschlechterte sich das Verhältnis zwischen den Schwarzen und der Polizei immer mehr. Magali kam mit ihrer Familie 1998 mit falschen Papieren über die Grenze. Ihre Eltern gehörten zu den elf Millionen, die in den USA ohne Aufenthaltsgenehmigung arbeiteten. Mit ihrer Ankunft in Iowa zog auch der Republikaner Stephen King in den Senat von Iowa ein und leitete die Abkehr seiner Partei von der Einwanderung ein. Kings Start in die Politik begründete er mit dem fehlenden Respekt der Demokraten bei einer Anhörung, der ihn irritiert habe (vgl. S. 88).

Kohlenberg erzählt die Geschichten und Biographien ihrer drei Protagonisten abschnittsweise parallel zueinander und zeigt anhand so unterschiedlicher Lebensbedingungen schließlich doch so ähnliche Muster, die u. a. zur Unterstützung des Populismus der Republikaner führten. Reformen, die den Bedürfnissen dieser drei, die so vielen anderen Amerikanern hätten gerecht werden können, blieben aus; stattdessen mussten sie mit ansehen, wie sich eine Politik der Eingliederung von Migranten, die mit so vielen Hoffnungen verbunden war, zurückentwickelte und sich gar bis zu einem Hass auf Migranten steigerte. Das Misstrauen gegenüber der Justiz, das besonders die Schwarzen immer mehr als belastend empfanden. Akribisch beschreibt Kohlenberg die Wechselfälle des wirtschaftlichen und beruflichen Lebens, die alle drei immer wieder zu beruflichen Neuorientierungen zwingen. Desillusioniert, enttäuscht von einem Land mit großen Versprechungen, verlieren sie ihr Vertrauen in die Politik und werden für die Sirenenklänge eines Trump empfänglich, der ihnen ein besseres Amerika verspricht.

Heiner Wittmann

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Das amerikanische Versprechen

Vom Streben nach Glück in einem zerstrittenen Land

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Beteiligte Personen

© Michael Pfister/ZeitOnline

Kerstin Kohlenberg

Kerstin Kohlenberg ist eine preisgekrönte Journalistin. Sie hat unter anderem den Theodor-Wolff-Preis, den Herbert-Riehl-Heise-Preis und den Reporter:inne...

Kerstin Kohlenberg ist eine preisgekrönte Journalistin. Sie hat unter anderem den Theodor-Wolff-Preis, den Herbert-Riehl-Heise-Preis und den Reporter:innen Preis erhalten und war mehrmals für den STERN-Preis nominiert. Bis Ende 2021 war sie sieben Jahre lang USA-Korrespondentin der ZEIT und eine der wenigen Frauen in diesem Job. Ihr vielgelobter, siebenteiliger Podcast Die Patrioten wurde ein Jahr nach der Kapitolerstürmung veröffentlicht. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrer T...

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