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Lesebericht: Wolfgang Schäuble, »Erinnerungen«

Verfasst von Heiner Wittmann
10.6.2024

Nach dem Tod von Wolfgang Schäuble am 26. Dezember 2023 sagte der französische Staatschef Emmanuel Macron anlässlich der Trauerfeier im Deutschen Bundestag: „Wenn heute im Bundestag die Stimme eines Franzosen zu hören ist, dann ist das dank der Freundschaft dieses großen Deutschen. Ein halbes Jahrhundert lang konnte man die Stimme dieses Deutschen hier im Bundestag hören, länger als jede andere. Mir wird damit eine große Ehre zuteil.“ (Das Video der Ansprache von Emmanuel Macron und der Text seiner Rede) In der Tat, Wolfgang Schäuble wurde 1972 zum ersten Mal in den Bundestag gewählt und gehörte ihm bis 2023 an. Viermal Minister und viele andere Funktionen, Vorsitzender der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Mitglied des CDU-Präsidiums und Präsident des Deutschen Bundestages, um nur einige seiner politischen Ämter zu nennen, mit deren Ausübung er die Geschicke der Bundesrepublik Deutschland z. B. im Verlauf des Prozesses, der zur Wiedervereinigung führte, während der Finanzkrise oder Covid-Pandemie mit großem Engagement und viel Erfolg mitbestimmt hat.

Lesebericht: Wolfgang Schäuble, »Erinnerungen«
Wolfgang Schäuble, aufgenommen am 29. Juni 2020 in Stuttgart
© Heiner Wittmann

Das Attentat, das am 12.10.1990 auf ihn verübt wurde, fesselte ihn an den Rollstuhl. 1991 hielt er im Bundestag die Rede (vgl. S. 296 f), mit der er das Votum für Berlin als Hauptstadt ganz entscheidend beeinflusste. Mit großem Nachdruck verteidigte er dieses Projekt, überzeugte die Zweifler und ich weiß gar nicht mehr, wo das kleine Transistorradio geblieben ist, mit dem ich bei der Arbeit im Büro von Klett diese Rede verfolgt habe: Sie war ein Glanzstück parlamentarischer Rhetorik.

Im Bundestag erinnerte Emmanuel Macron allein schon durch seine Präsenz und dann mit seinen Worten an Wolfgang Schäuble als einen Freund Frankreichs: „Dieser Wunsch Wolfgang Schäubles, einen Franzosen im Bundestag sprechen zu lassen, sagt viel über sein Vertrauen in unsere beiden Länder. Es sagt aber auch viel über unsere Geschichte, über unsere Zukunft.“ Und er fügte hinzu: „Aus Ihren Worten, Frau Bundestagspräsidentin, Herr Friedrich Merz, entsteht vor meinem geistigen Auge das Fresko Ihrer, unserer kollektiven Geschichte. In den vergangenen 60 Jahren hat Wolfgang Schäuble jedes dieser Ereignisse aktiv miterlebt und war im Laufe seines politischen Engagements zu einem lebenden Gedächtnis geworden.“

So verhält es sich auch mit seinem letzten Buch „Erinnerungen. Mein Leben in der Politik“, das bei Klett-Cotta erschienen ist. „Was nachwirkt: Herkunft – Prägungen – Überzeugungen“ lautet die Überschrift des ersten Kapitels, das über seine Jugend und sein Aufwachsen in der jungen Bundesrepublik berichtet: Sein Interesse für die Geschichte, für Israel und für Frankreich. Durch die Familie fand er seine politische Heimat in der CDU, in die er über den Umweg im RCDS 1965 eingetreten war. 1972 wird er Büroleiter beim Innenminister im Kabinett Filbinger. Kaum ist er dort angekommen erhielt er das Angebot, für ein Direktmandat im Wahlkreis Offenburg zu kandidieren. Schon zeichnete sich sein Weg in die Politik und damit nach Bonn ab.

Damals war, so berichtet Schäuble, die Union an einem Tiefpunkt angelangt. Nach dem Rücktritt Rainer Barzels im Mai 1973 vom Partei- und Fraktionsvorsitz, wurde im folgenden Monat Helmut Kohl zum Vorsitzenden der CDU gewählt.

Die Staatsfinanzen (S. 101 f. et passim) werden sein Lebensthema. In seinen verschiedenen Funktionen lernt Schäuble diese Themen von allen Seiten kennen und kann auch seinen Lesern seine Passion auf diesem Gebiet glaubhaft machen.

Immer wieder noch lange vor der deutschen Einheit kommt es zu besonders denkwürdigen Situationen, so das konstruktive Misstrauensvotum vom 1. Oktober 1982, das Helmut Kohl die Kanzlerschaft bescherte: vgl. S. 109-116. Schäuble kann über die damaligen Ereignisse aus dem inneren Zirkel um Kohl berichten, dem er ab Herbst 1981 angehörte. Und, so berichtet er, stand er auch zur „geistig-moralischen Wende“, die damals ausgerufen wurde. Für den politischen Gegner hält er manchmal wenig schmeichelhafte Worte bereit: „Helmut Schmidt als Coca-Cola trinkender erster Angestellter des Staates verkörperte eher einen freudlosen asketischen Regierungsstil.“ (S. 120)

1983 gelingt es Kohl, den NATO-Doppelbeschluss durchzusetzen – mit Hilfe der Rede von François Mitterand im Deutschen Bundestag. Schäuble hält diesen Erfolg für Kohls „womöglich größte politische Leistung.“ (S. 131) und „Natürlich konnte man damals noch nicht wissen, dass in diesem Beharrungswillen ein Schlüssel zur Überwindung der Blockkonfrontation lag.“ (ib.)

Mit dem Beginn der Kanzlerschaft Kohls werden diese Lebenserinnerungen auch zu einem Geschichtsbuch bundesdeutscher Zeitgeschichte. Natürlich erfährt der Leser weiterhin, in welchen Rollen Wolfgang Schäuble an den verschiedenen Schaltstellen der Politik mitwirkt: „Unverhoffte Aufgabe im Maschinenraum der Macht“ - er wird Chef des Kanzleramtes (1984-1989) und macht zur Bedingung, auch mit den deutsch-deutschen Beziehungen betraut zu werden. Durch ihn bekommen seine Leser hier so manchen wertvollen Einblick in das Funktionieren des Regierungsapparates um Kohl, z. B. berichtet er, wie es ihm gelang, Kohl die produktive Nutzung dieses Apparates zu vermitteln, „ohne überall Verrat zu wittern“. (S. 149) Zur Erklärung: „Ich orientierte mich daran, was der Kanzler wollen könnte, wenn er es richtig verstehen oder sich ausführlich damit beschäftigen würde.“ (ib.) Er fügt gleich hinzu, wäre er Kanzler gewesen, hätte Kohl nicht den halb so großen Spielraum bekommen, wie er, Schäuble, ihn hatte. (vgl. S. 150)

Vielleicht war es ein Glücksfall, dass Schäuble als Chef im Kanzleramt auch mit den deutsch-deutschen Beziehungen vertraut war (bsd. S 189-239!), so konnte er 1989 mit Fingerspitzengefühl mit seinen besonderen Kenntnissen zur Umwälzung in der DDR, ihrem Ende und zum Einigungsprozess beitragen. „Deutschlandpolitischer Minimalismus“ (S. 197) beschreibt als Kapitelüberschrift den Balanceakt zwischen Zusammenarbeit und Nichtanerkennung der DDR, aber Schäuble wollte weitergehen, einerseits das Regime delegitimieren, aber auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl nicht vernachlässigen, wodurch eine Stärkung der Widerstandkraft Ost-Berlins gegen den Einfluss aus Moskau gemeint war. (vgl. S 197)

Kapitel V beschreibt „Neun Tage im Oktober – Deutsche Einheit und Attentat“, das zu den aufregendsten Abschnitten dieses Buches zählt, in dem Schäuble auch den Leser am Erstaunen über die Geschwindigkeit der Ereignisse teilhaben lässt. Und er bestätigt eine der Meinungen über Kohl, der so geschickt ein, vielleicht nur kurze Zeit, offenstehendes Fenster zur deutschen Einheit mit so viel politischem Instinkt zu nutzen verstand (vgl. S. 278).

Auf die Jahre im Fraktionsvorsitz (Kapitel VI) folgte die Zeit als Oppositionsführer (Kapitel VII) und das Ende von Rot-Grün. Die Ära Merkel beginnt bei Schäuble mit einem Bekenntnis: „Zum inneren Zirkel Merkels gehörte ich nie.“ (S. 403)
Für die folgenden Ereignisse, wie die Entwicklung der EU, die Internationalisierung, das Migrantenproblem einschließlich der Asylproblematik, die neuen Kommunikationskanäle, der NSU, die Islamkonferenz, alles Themen, in die Schäuble an vorderster Front mitinvolviert war, gilt auch hier, dass dieses Kapitel zu einem Buch über bundesdeutsche Geschichte gehört.

Kapitel IX gilt wieder Schäubles Passion. Er wird Finanzminister, kämpft gegen die Neuverschuldung und macht sich die „Schwarze Null“ zum Ziel und trägt seinen Teil dazu bei, die europäische Schuldenkrise zu managen und zeigt dabei, dass die EU ein Prozess ist, und sie über Institutionen verfügt, die man aber kreativ einsetzen muss, um auf neue Herausforderungen, die so nicht vorhergesehen waren, reagieren zu können. Diese Beobachtung gilt auch für das Management der Covid-Krise.

2017-2021 ist Schäuble Präsident des Deutschen Bundestages und berichtet u.a. von der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung, die mit dem Aachener Vertrag gegründet worden ist, weltweit eine einmalige Initiative. In diesem Zusammenhang bedauert Schäuble ausdrücklich: „Dass Macrons bemerkenswerter europapolitischer Aufschlag in seiner Rede vor der Sorbonne [2017, d. Red.] nicht nur wegen des deutschen Wahlkampfs und der Koalitionsverhandlungen ohne vernehmbare Antwort aus Berlin blieb, habe ich sehr bedauert. Dadurch wurde eine Chance für Europa von deutscher Seite leichtfertig vertan.“ (S. 571) Schäuble erinnert an seine Rede zu Europa 2019 im Humboldt-Forum, wobei er Macrons Formel „une Europe qui protége“ aufgriff. Und Schäuble zitiert einen Kommentar von Bettina Gaus aus der taz: „Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie sich an die Grundsatzdebatte nicht erinnern, die nach dieser Rede entbrannte. Es hat sie nicht gegeben. Nichts und niemand scheint imstande zu sein, den dichten Nebel der Ratlosigkeit zu durchdringen, die sich als Selbstbewusstsein tarnt und derzeit die politische Klasse beherrscht. Die Forderung nach Diskussionen über Prinzipien ruft bestenfalls Augenrollen hervor. Interessengeleitete oder wertgestützte Außenpolitik? Mehr Augenrollen. Gibt es eine Möglichkeit, beides miteinander zu verbinden? Das Publikum verlässt den Saal.“ Wenn ich heute Wolfgang Schäuble nach den Berliner Reaktionen auf die zweite Sorbonne-Rede von Emmanuel Macron am 25. April 2024 hätte befragen können, hätte er mir wohl dieses Zitat vorgelesen.

Heiner Wittmann

Erinnerungen

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Beteiligte Personen

Wolfgang Schäuble

Wolfgang Schäuble

(1942–2023) war seit 1972 bis zu seinem Tod am 26. Dezember 2023 Mitglied des Deutschen Bundestages. Schäuble bek...

Wolfgang Schäuble

(1942–2023) war seit 1972 bis zu seinem Tod am 26. Dezember 2023 Mitglied des Deutschen Bundestages. Schäuble bekleidete wichtige Ämter in seiner Partei, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und in mehreren Bundesregierungen; unter Angela Merkel wurde er Innenminister und einflussreicher Finanzminister. Von 2017 bis 2021 bekleidete er als Bundestagspräsident das zweithöchste Staatsamt.

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