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Lesebericht: Paul Lynch, »Das Lied des Propheten«

Verfasst von Heiner Wittmann
15.7.2024

Eilish Stack lebt mit ihrer Familie in einem Haus wohl im Vorort einer irischen Stadt. Als der Staat in den Griff der National Alliance Party gerät, entsteht durch sie ein diktatorisches Regime, das sich täglich weiter radikalisiert. Eines Nachts klopft es an Eilishs Haustür. Zwei Polizisten fragen nach ihrem Mann Larry und nehmen ihn mit. Zunächst hofft Eilish noch auf seine Rückkehr, aber er bleibt vorerst verschwunden.

Mit seinem Roman »Das Lied des Propheten« (vgl. S. 306), hat Paul Lynch ganz zu Recht 2023 den Booker Prize gewonnen. Jetzt liegt das Buch in der Übersetzung von Eike Schönfeld bei Klett-Cotta vor.

Lesebericht: Paul Lynch, »Das Lied des Propheten«

Radikale Regime geraten leicht in einen Sog immer weiterer Radikalisierung, um ihre Ziele gegen jeden Widerstand durchzusetzen. Werden zuerst noch Menschenrechte nur in Frage gestellt und dann gar aufgehoben, werden bald Bürger drangsaliert und dann ihre Rechte beschnitten. Die Regierung gibt vor, Law und Order aufrechtzuerhalten oder wiederherstellen zu wollen, kann dies aber nur über Beschränkungen, Verhaftungen und Kontrollen aller Art und nur unter Androhung von immer mehr Gewalt durchsetzen. Nächtliche Ausgangssperren werden eingerichtet. Dabei nehmen derartige Regierungen es in Kauf, dass das Sozial- und Wirtschaftsgefüge zusammenbricht, wodurch sich das Regime nur noch weiter radikalisiert.

Es ist dieser Mechanismus, der national denkende Parteien und ihre Staaten in den Abgrund führt. „Unser Land zuerst“ oder „Wenn das Volk wählt, gewinnt das Volk,“ so lauten die Slogans, die dem Volk vorgaukeln sollen, das alles besser werde. Lynch legt hier ein präzises Protokoll vor, wie solche Sirenenklänge den Weg in den Abgrund zeigen.

Auf jeder Seite in diesem Roman verschärfen sich unaufhaltsam die Zwangsmaßnahmen des Regimes. Er ist auch eine Warnung vor dem Entstehen radikaler Regime, die, gehen ihre Keime auf, ihre Radikalisierung schon in sich tragen. Mobiltelefone werden überwacht und das Internet wird abgeschaltet. Eilishs ältester Sohn soll über die Grenze geschickt werden, stattdessen hat er sich wohl der Rebellenarmee angeschlossen, die versucht, die Macht zurückzuerobern. Zuerst meldet er sich noch sporadisch, dann aber bricht der Kontakt zu ihm ab.

Geschütz- und Gewehrfeuer rücken immer näher, jeder Gang nach draußen bringt jeden in Lebensgefahr.

Eilish hat jeden Tag, stündlich, immer mehr Probleme und Sorgen, wie sie ihre Kinder beschützen kann. Sie verbarrikadiert sich mit ihnen in ihrem Haus. Oft fällt der Strom aus, die Beschaffung von Lebensmitteln wird immer komplizierter.

Wörtliche Rede gibt es nicht. In langen Absätzen vermischen sich die Unterhaltungen mit dem, wie die Protagonisten fühlen und denken. Das ist dramaturgisch sehr geschickt, so entsteht eine Atemlosigkeit, die die Dramatik der Ereignisse zusätzlich hervorhebt. Die existentiellen Sorgen von Eilish werden immer gravierender; sie aber hält durch, stumpft aber auch in gewisser Weise ab, um den Terror und die tägliche Angst um ihr Leben und das ihrer Kinder und ihres Mannes bewältigen zu können. Und sie erlebt die Wachleute, die an den Kontrollpunkten die Bürger schikanieren. Ganz normale Leute, die sich willfährig dem Regime unterordnen und sie mit ihrer Macht bedrohen. Diese Randbeobachtung darf nicht übersehen werden: das Regime verschafft sich Unterstützung durch Vereinnahmung, Machtverteilung oder -gewährung. Unbescholtene Bürger werden zu Schergen.

Die Botschaft des Romans »Das Lied des Propheten« ist eindeutig. Nehmt euch vor radikalen Kräften in Acht, die aufräumen wollen. Sowie sie unter allen möglichen Vorwänden Rechte der Bürger außer Kraft setzen, unterdrücken sich auch jeden Protest, und greifen sogleich zu weiteren Maßnahmen, um ihre Macht durchzusetzen, ihr Terror wird schnell allgegenwärtig. Alles beginnt, wie im Fall von Larry mit „Befragungen“ am Rande oder schon jenseits der Legalität. Widerspruch wird nicht geduldet, sondern mit weiterem Zwang beantwortet.

Wird heute in Deutschland über die Pläne der AfD und in Frankreich über das Rassemblement national RN diskutiert, wird viel über deren Taktik, sich immer mehr salonfähiger zu zeigen, gesprochen. Der Vorsitzende des RN, Jordan Bardella, schönte sein Wahlprogramm immer mehr, dünnte es aus, um auf die absolute Mehrheit bei den jüngsten Parlamentswahlen (vergeblich) zu hoffen. Aber die Ideologie des RN blieb dennoch sehr präsent mit ihrem Eintreten für die „préférence nationale“ und den Drohungen gegen denjenigen, die mit einer Doppelstaatsbürgerschaft in der Verwaltung um ihre Jobs fürchten mussten, verbunden mit dem Kampf gegen die Migration. Werden Bürgerrechte beschnitten und demokratische Verfahren in Frage gestellt, sind schon erste Wegmarken für ein radikales Regime gesetzt. Der Roman von Paul Lynch kann dazu beitragen, die Augen der Wähler für die Gefahren zu öffnen, die von extremen Parteien ausgehen, die auf Populismus bauen und zur Radikalisierung neigen.

Heiner Wittmann

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Das Lied des Propheten

Roman

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Beteiligte Personen

© Joel Saget, AFP

Paul Lynch

Paul Lynch, geb. 1977 in Limerick, wuchs in Donegal auf und lebt in Dublin. Von 2007 bis 2011 war er Chef-Filmkritiker der irischen Zeitung »Sunday Tribun...

Paul Lynch, geb. 1977 in Limerick, wuchs in Donegal auf und lebt in Dublin. Von 2007 bis 2011 war er Chef-Filmkritiker der irischen Zeitung »Sunday Tribune« und schrieb regelmäßig für die »Sunday Times«. Seitdem ist er hauptberuflich Autor. Seine Werke wurden mit zahlreichen Preisen in Irland und UK ausgezeichnet. Für seinen aktuellen Roman »Das Lied des Propheten« erhielt er den Booker Prize 2023.

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