»Spiegel unseres Schmerzes«, der neue Roman von Pierre Lemaitre, gerade in der Übersetzung von Tobias Scheffel bei Klett Cotta erschienen, ist der dritte Roman einer Trilogie: 1. > Lesebericht: Pierre Lemaitre, Wir sehen uns dort oben – 23. Januar 2015 , 2. > Lesebericht: Pierre Lemaitre, Die Farben des Feuers – 7. März 2019.
»Spiegel unseres Schmerzes« ist nicht weniger spannend als die ersten beiden Bände dieser Trilogie, die eine Art Gesellschaftsgeschichte enthält: der erste Band berichtet vom Schicksal zweier Soldaten in dem Grauen des Ersten Weltkriegs: „“In den allerletzten Kriegstagen werden Albert und Édouard noch ins feindliche Feuer geschickt. Ihr Vorgesetzter Pradelle will unbedingt noch diesen kleinen Frontabschnitt 113 den Deutschen abringen. In letzter Sekunde rettet Édouard Albert vor dem sicheren Tod. Albert erfüllt ihm seinen größten Wunsch und verschafft seinem schwer verletzten Freund eine falsche Identität, …“ stand in unserem > Lesebericht: Pierre Lemaitre, Wir sehen uns dort oben.
Der 2. Band der Trilogie berichtet über „Reichtum, der sich zur Habgier entwickelt, Neid und Missgunst, ein Bankenimperium, das in den Strudel der Geschichte gerät, und mittendrin eine Familie, die sich gegenüber grenzenloser Habsucht und Gier nicht mehr zur Wehr setzen kann. Aber Rache ist doch zu süß und verführerisch und führt aber geradezu ins Verbrechen. Diese Mischung ist dem Autor ganz vorzüglich gelungen. …“ > Lesebericht: Pierre Lemaitre, Die Farben des Feuers. Der dritte Roman erzählt jetzt Ereignisse, das Schicksal von sieben Personen zur Zeit der Drôle de guerre vom 3. September 1939 bis 10. Mai 1940, als die Deutschen über Belgien kommend in Frankreich einmarschierten. Man hört ihre Motoren- und Flugzeuggeräusche und erlebt ihre Angriffe aus der Luft, ganz konkret treten nur drei deutsche Soldaten in einer so bemerkenswerten Schlüsselszene im Roman auf.., die wir bei einer Lesung so gerne vorlesen würden!
Um die Lesespannung in keiner Weise zu beeinträchtigen, werden Sie in diesem Beitrag von der Geschichte selbst nichts erfahren, Monsieur Jules, Louise, der Doktor, Raoul Landrade, Gabriel, Désiré Migault, Fernand, Alice.. spielen die Hauptrollen und werden sich früher oder später in ganz bestimmten Konstellationen begegnen. Dabei spielt ein wichtiger Aspekt der Geschichtsschreibung eine bedeutende Rolle. Wird die Entwicklung von Vorgängen durch die Initiative von Menschen vorangetrieben, durch ihre Reaktionen oder auch Untätigkeiten? Oder ist es der Zufall, der die Entwicklung von Ereignisse so nachhaltig bestimmt?
Alle Ereignisse oder Begegnungen in diesem Roman sind völlig plausibel. Anhand der Schicksale von Einzelpersonen erzählt Pierre Lemaitre die Monate der Drôle de guerre, wo man in Frankreich ziemlich sicher war, einen drohenden deutschen Angriff mit Sicherheit zurückschlagen zu können. Und dann kommen die Deutschen doch und stürzen das Land und die Bewohner ins Chaos. Die Flüchtlinge (ganze Familien) drängen auf den Straßen hinter die Loire. Flüchtlingstrecks, die zunehmend Angriffen aus der Luft ausgesetzt sind, bilden den Hintergrund, vor dem sich die mehr oder weniger ineinander verwobenen Dramen der genannten Hauptpersonen ereignen.
Wie im Kino bei der Parallelmontage (cross-cutting) werden zunächst Geschichten nebeneinander erzählt an ganz verschiedenen Orten, die aber alle mit ihrer innewohnenden Spannung das Empfinden der Protagonisten angesichts der wachsenden Kriegsgefahr interpretieren und so in gewisser Weise Sozialgeschichte schreiben. Und dann treffen einzelne die Protagonisten immer wieder zusammen und heizen die Spannung noch weiter an. Ihre Lesepausen werden immer kürzer werden.
Pierre Lemaitre ist eine Meister des Kriminalromans: > Lesebericht: Pierre Lemaitre, Opfer. Thriller oder > Nachgefragt: Pierre Lemaitre, Drei Tage und ein Leben, kein Wunder, dass er auch in > Spiegel unseres Schmerzes, die Polizei, einen Staatsanwalt und einen Rechtsanwalt auftreten lässt, schließlich gibt es schon im ersten Kapitel einen Toten, dessen Vorgeschichte im ganzen Buch präsent bleibt und gerade der Interpretation des Stellenwerts von Zufall und Initiative einen so großen, so extrem spannungsgeladenen Raum gibt.
Es sind dann die unmittelbaren Kriegsereignisse, die unseren Protagonisten so viel abverlangen, die sie zum Reagieren und Handeln zwingen und den Zufall augenscheinlich in den Hintergrund treten lassen. Und wie sind die sieben Charaktere mit ihren Eigenheiten so gut gezeichnet! Einige sind schüchtern und laufen in Momenten der Gefahr zur Höchstform auf. Verändern die Ereignisse die Menschen? Sind es die Ausnahmesituationen oder die Beziehungen zu anderen Menschen, die Veränderungen auch im Verhalten auslösen? Lemaitre legt eine Sozialgeschichte aber auch wohl beinahe einen psychologischen Roman vor, so präzise sind die Erwartungen, Enttäuschungen, Reaktionen und Antriebe der Protagonisten geschildert.
Wir müssen Pierre Lemaitre gar nicht fragen, wo er seine Anregungen gefunden hat: Seine Quellen sind auf S. 477-480 zusammengefasst: Anregungen zum Weiterlesen. Bemerkenswert mit welcher Akribie, Neugier, ja Forscherdrang Lemaitre sich die wirklichen Geschichten aus diesen Monaten angeeignet hat, um das Leben und Treiben seiner Protagonisten zu beobachten. Fast scheint es so, als hätte er selbst zu Beginn die Lösung oder das letzte Kapitel nicht im Kopf gehabt und der Entwicklung im Lauf der Kapitel zugesehen.
Heiner Wittmann
> Nachgefragt: Pierre Lemaitre, Die Farben des Feuers – 12. April 2019
> Lesebericht: Pierre Lemaitre, Die Farben des Feuers – 7. März 2019
> Lesebericht: Pierre Lemaitre, Wir sehen uns dort oben – 23. Januar 2015
> Vorgefragt: Pierre Lemaître, Wir sehen uns dort oben – 16. Oktober 2014
> Lesebericht: Pierre Lemaitre, Opfer. Thriller – 7. Dezember 2018
> Nachgefragt: Pierre Lemaitre, Drei Tage und ein Leben – 19. Oktober 2017
> Lesebericht: Pierre Lemaitre, Drei Tage und ein Leben – 14. September 2017
Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben...
Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben«, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman »Spiegel unseres Schmerzes« in deutscher Übersetzung vor.
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