Nina ist in Los Angeles gestartet und landet in Zürich. Es ist eine Rückkehr in ihre Jugendjahre, der damit beginnt, dass ihre Intimfreundin Sarah sie abholt und ihr nicht nur nebenbei gleich von ihren phantastischen beruflichen Erfolgen als Anwältin vorschwärmt. Tom Kummer hat mit »Unter Strom« einen mitreißenden Roman vorgelegt, der am besten ohne Pause (in einem Zug) gelesen wird.
Erinnerungen tauchen in ihr auf… damals hat Nina Tom kennengelernt und ist ihm im Herbst 1993 in die USA gefolgt, wohlwissend, dass Sarah sie so gerne zurückbehalten hätte: „Das Reich des Bösen, Baby. Du bist Dir hoffentlich bewusst, auf was für ein Land du dich da einlässt.“ (S. 61) So genau weiß Nina immer noch, ob ihre Entscheidung für Tom richtig war. Sarah will Nina wie vor zwanzig Jahren am liebsten ganz für sich behalten: „Ich möchte einfach nur, dass wir diese Lücke schließen, die sich in unserer Geschichte gebildet hat.“ (S. 35). Ein großes Fest zum Wiedersehen mit Nina will sie geben, ganz so als sei deren Rückreise gar nicht geplant.
Ihre intime Verbindung existiert immer noch, wird von beiden, mehr von Sarah als von Nina, sofort wieder ausschweifend gelebt. Sarah lässt ihre Freundin spüren, dass sie sie vollständig besitzen will, ob Nina frei ist, ihre Entscheidung selber zu treffen, steht gar nicht zur Debatte. Und doch versucht Nina auch aus dieser Verbindung auszubrechen.
Der Ausflug oder die versuchte Flucht mit Sarahs Motorrad, das rauschende Fest, in das Nina eher nur hineingezogen wird und das ihr mehr als unbehaglich ist, auch das gewisse Erstaunen, das Sarah mit ihr so weitermacht, wie sie damals aufgehört haben: „Erst wenn du dich ganz befreist, können wir uns richtig lieben…“ (S. 105) und sie sagt ihrer Freundin vorher, dass Tom gewiss bald erledigt sein werde.
Sarah scheint nochmal eifersüchtig auf Tom zu sein, ihrer übergreifenden und besitzergreifenden Art spielt nur Nina für sie eine Rolle. Ohne Zweifel ist Sarah eine Egoistin, denn sie denkt trotz gespielter Fürsorge für Nina nur an sich selbst. Und wenn Nina auf ihrer versuchten Flucht sich im Wald auf einem Wurzelhocker wiederfindet und über ihre Lage nachdenkt, dann tut sie das so wie Roquentin in Sartres Der Ekel im Park unter der Kastanie. Aber Nina schafft den Absprung nicht: „Du und Tom, ihr habt euch eingemauert,“ (S. 157) muss sie sich von Sarah anhören lassen.
Das große Fest für Nina ist meisterhaft beschreiben. Und nicht nur weil Sarah sich nur für Nina, sprich sich nur für sich interessiert, verliert sie jede Kontrolle. Die Polizei erscheint.
Heiner Wittmann
Tom Kummer, geboren 1961 in Bern, ist ein Schweizer Autor. Als Journalist löste er im Jahr 2000 wegen fiktiver Interviews einen Medienskandal aus. Nach me...
Tom Kummer, geboren 1961 in Bern, ist ein Schweizer Autor. Als Journalist löste er im Jahr 2000 wegen fiktiver Interviews einen Medienskandal aus. Nach mehreren Jahren in Los Angeles mit seiner Familie, lebt er wieder in Bern. Er schrieb u.a. »Good Morning, Los Angeles - Die tägliche Jagd nach der Wirklichkeit« (1997) und »Blow Up« (2007). Seine Romane »Nina & Tom« (2017) und »Von Schlechten Eltern« (Shortlist Schweizer Buchpreis 2020) wurden von der Kritik gefeiert.
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