Unsere Redaktion hat den Thriller von Pierre Lemaitre »Opfer« in der Übersetzung von Tobias Scheffel gelesen. „Was uns zustößt, erzeugen wir selbst,“ steht auf S. 299.
Ein äußerst brutaler Raubüberfall, dem am gleichen Tag noch weitere folgen, bringen Kommissar Camille Verhoeven in arge Bedrängnis. Das Opfer ist seine Lebensgefährtin, keine Frage, dass Verhoeven sich des Falls mit seinen Methoden annimmt. Seinen Kollegen sagt er fast nichts, wird zum Getriebenen, eine Hast, an der Lemaitre den Leser unmittelbar teilhaben lässt. Verhoeven überlegt sich Handlungsalternativen und gerät aber doch in einen Ermittlungsrausch, in dem sich ständig viertelstündlich alles ändert. Das ganze bekommt eine Rapidität, der selbst seine Vorgesetzte Kriminalrätin Marchand nicht mehr folgen kann, sie will Infos, aber Verhoeven hat keine Zeit dazu.
Die Spannung entsteht durch die vielen Mikrosituation, die die Geschichte kurz anhalten, die Gesten, die Mimik, bestimmte Reaktionen verschiedener Person en détail in allen Fasern beschreiben, so als wenn Verhoeven kurz stoppt, bevor er weiterhetzt. Wandelt er auf einem Grad? Ein Verbrechen aufklären und sich gleichzeitig zu diversen Vergehen hinreißen lassen. Das kann nicht gut gehen. Seine Methoden sind nicht lauter und dennoch kommt er stückchenweise im Kampf gegen die Bande weiter. Aber: „Etwas entzieht sich uns, sagt sich Camille erneut. Etwas, das wir nicht gesehen und verstanden haben.“ S. 119
Kommt Verhoeven mit seinen Ermittlungen weiter? Ja und Nein, denn unter jedem neuen Puzzlestein liegen 10 andere. Der Leser spürt eine baldige Lösung, dann kann er ja eine Pause machen und denkt an einen Kafffee. Drei Minuten später sind Pause und Kaffee vergessen, weil die Handlung eine ganz andere Richtung genommen hat und Verhoeven schon wieder woanders hineilt. Vielleicht sollte er noch besser zuhören: „Verführerisch,“ sagt Anne über den Mann, der auf sie geschossen hat: „…wie du…“. Sein Freund Louis will ihm helfen, merkt aber nur, „dass er einige Episoden im Leben Verhoevens verpasst hat.“
Einmal mobilisiert Verhoeven seine Kollegen zu einer Hetzjagd, alles wird in Bewegung gesetzt, um das Milieu aufzumischen. Nervosität aller Orten, zurück bleiben abgeschnittene Finger und ein Toter. Und wieder ist Verhoeven nicht weitergekommen, jetzt müssen härtere Mittel zum Einsatz kommen. Verhoeven hat übrigens ein fast photographisches Gedächtnis. In seinem Kopf existiert eine ganze Verbrecherdatei, weil er allen mit denen er zu tun hat, in Mußestunden, die hat er wirklich, kleine skizzierte Porträtstudien widmet, die besser als Fotos sind. Aussagekräftiger.
„Die Aussicht, die sich da eröffnet, zwingt Verhoeven immer noch einen Schritt weiter zu gehen, was er seit Beginn unaufhörlich tut.“ S. 189 Spannung pur. So ein Buch kann die Arbeit einer Redaktion total blockieren, weil jeder etwas davon hört und jeder es sofort lesen will: „In allem sieht Camille Zeichen.“ S. 213 Kaum ein Umstand, kein Hinweis bleiben ihm verborgen, er kombiniert im Vorbeirennen und verwirft schnell Enden, die nicht zusammenpassen: „Denn im Grunde hat Camille Angst.“ S.212
„Ich“ ist als handelnde Person auch mit dabei, also gar nicht nur ein omnipräsenter Erzähler, der Verhoeven auf der Spur ist, da guckt ihm noch jemand anders in die Karten, lässt ihn zappeln, aufhorchen, fast oder gerade ins Messer laufen, und Verhoeven weiß nicht, wie er das Spiel beenden kann.
157 cm ist Verhoeven groß. Das hat aber gar keine Bedeutung, da er soviel Aktivitäten wie ein ganzes Kommissariat zusammen entwickelt und Verbrecher wie Kollegen vor sich hertreibt. Hat seine Methode Erfolg? An Selbstbewusstsein hat er keinen Mangel, aber er ist auch auf seine Weise sehr empfindlich und verletzlich. Wollten Sie nicht eigentlich ein Phantombild des oder der gesuchten Verbrecher herstellen, will unsere Redaktion den Autor fragen. Stattdessen offenbart uns Verhoeven, wie er tickt, denkt und was ihn antreibt.
Die Kategorie für dieses Buch: Klar, „sie verpassen den nächsten Um- oder Austieg“, wenn Sie das Buch im ICE oder im IC oder in jedem anderen Gefährt des ÖPNV aufschlagen.
Heiner Wittmann
Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben...
Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben«, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman »Spiegel unseres Schmerzes« in deutscher Übersetzung vor.
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