m Anhang des jüngst erschienenen Romans von Pierre Lemaitre »Die Farben des Feuers«, den Tobias Scheffel übersetzt hat, steht auf den Seiten S. 477 ff. ein Schuldschein, den unsere Redaktion Ihnen nach der Lektüre dieses Romans zur Kenntnisnahme empfiehlt. Auf diesen Seiten öffnet der Autor ihnen ein wenig seine Schreibwerkstatt und berichtet über die Quellen, die ihn zu diesem Roman inspiriert haben.
Einigen wir uns zunächst auf die Gattung: Auf dem Titel steht Roman, auf der U4 steht Sittengemälde, es ist aber auch ein Krimi, der in seiner Dramatik an die letzten Bücher von Pierre Lemaitre erinnert: > Lesebericht: Pierre Lemaitre, Opfer. Thriller – 7. Dezember 2018 und die aufregende Geschichte in > Nachgefragt: Pierre Lemaitre, Drei Tage und ein Leben – 19. Oktober 2017. > Die Farben des Feuers ist aber auch wohl eine Folge von > Lesebericht: Pierre Lemaitre, Wir sehen uns dort oben – 23. Januar 2015, weil uns einige der Personen, die jetzt im neuen Roman vorkommen, schon bekannt sind und wir jetzt mehr über ihr Schicksal erfahren.
Reichtum, der sich zur Habgier entwickelt, Neid und Missgunst, ein Bankenimperium, das in den Strudel der Geschichte gerät, und mittendrin eine Familie, die sich gegenüber grenzenloser Habsucht und Gier nicht mehr zur Wehr setzen kann. Aber Rache ist doch zu süß und verführerisch und führt aber geradezu ins Verbrechen. Diese Mischung ist dem Autor ganz vorzüglich gelungen.
Nach dem Tod des Bankiers Marcel Péricourt 1927 und dem Unfall am Tag seiner Beisetzung- oder was war das? – seines Sohnes Paul fehlt die ordnende Hand des Familienpatriarchen und ein jeder beweist, dass er nur auf seinen Vorteil beim Verteilen, das zu einem Verschleudern des Erbes wird, bedacht ist. Die dräuende Weltwirtschaftskrise (1) tut ein übriges, um den Ruin seines Imperiums zu vollenden. Die Witwe Madeleine Péricourt wird von ihren Verwandten allzuschnell von ihrem Platz verdrängt. Zunächst durchschaut sie die finanziellen Machenschaften nicht, unterschreibt und vertraut dem Prokuristen der Bank, Gustave Joubert, der der Versuchung der Bereicherung nicht widerstehen kann.
Madeleine lernt unter dem Druck der Ereignisse unheimlich schnell dazu und findet Mittel und Wege den Spieß geräuschlos herumzudrehen und fängt ihrerseits an, die Fäden zu ziehen. Als sie entdeckt, was es schon früher, vor dem Tod ihres Mannes, für Abgründe sogar unter ihrem Dach gab, wie sie hintergangen wurde, gibt sie sogar den Rest jeden moralischen Anstandes auf und plant die Vernichtung ihrer Gegner. Jetzt wird der Roman erbarmungslos zum Krimi, wir werden Zeugen, wie Verbrechen nicht aufgeklärt, sondern zum Ausgangspunkt skrupel- und gewissenloser Rache werden. Wieder so ein Buch, das nicht S-Bahn-geeignet – aber wenn Sie sowieso an der Endhaltestelle aussteigen, dann geht es – ansonsten müssen Sie wachsam sein und wissen, dass es fast auf jeder Seite dieses Romankrimis eine neue Entwicklung gibt, die die Handlung unerwartet abbiegen lässt und neue Konstellationen – auch der Personen heraufbeschwören.
Sex treibt hier alle an. Liebschaften außer oder als Ergänzung der Ehe sind hier die Regel. Sex ergänzt das Verbrechen und andersherum: „Und jetzt, Monsieur Dupré, wollen Sie nicht freundlicherweise mit mir schlafen?“ (S. 391) Sex verführt zur Macht und wird ein Mittel der Erpressung, die allen Anstand hinter sich lässt und die Protagonisten in einen Strudel von Betrug, Verrat und Gemeinheiten jeder Art hineinzieht: „Womit die Botschaft klar war. Er küsste ihre Finger und fügte, um das Maß vollzumachen, hinzu: „Madeleine…“ Das sollte reichen. „Gustave…“, antwortete sie. Die nächste Seite verrät Gustave Jouberts Geringschätzung der Frauen, was ihn nicht davon abhält, die Witwe seines verblichenen Chefs aus welchen durchsichtigen Gründen auch immer zu küssen: vgl S. 80. Andere können das auch auch von sich sagen: Für Dupré waren die Frauen immer der schwache Punkt“. S. 216.
Als Charles Péricourt in einem kurz aufblitzenden moralischen Anfall für den ersehnten Vorsitz in der Kommission, die mit dem Kampf gegen die Steuerhinterziehung beauftragt ist, kämpft und ihn erhält, erleidet er jämmerlichen Schiffbruch, denn dieses System, diese Republik verträgt den Einsatz für die Steuermoral nicht, schon sind die Demonstranten auf der Straße. Er muss zurückrudern, die Kommission wird klammheimlich beerdigt und die Dinge nehmen wieder ihren gewohnten geheimen Verlauf, bis alle an ihrem eigenen Neid ersticken.
Joubert will das Vermögen von Madeleine umstrukturieren, legt gute Gründe vor, Madeleine signiert ihren Untergang und muss zusehen, wie ihr Vermögen vernichtet wird. Und die Gerissenheit Jouberts wird schon von Sohn Paul noch überholt, der unter Ausnutzung seines so langsamen Stotterns unter den Augen seiner Mutter Madeleine von Joubert ohne Wenn und Aber eine Dienstleistung verlangt : „Ich denke, dass Monsieur Joubert jetzt alles tun wird, um ein weiteres Gespräch mit mir zu vermeiden.“ Der 10- jährige hat in seiner Umgebung schon so einiges gelernt. Sein Schicksal und dessen sich langsam aufdeckende Gründe bringen Madeleine buchstäblich zur ungezügelten Raserei.
„Seit dem Weltkrieg war das Spekulieren an der Börse neben dem Boxen und dem Rennradfahren zum Modesport geworden. Alle beteiligten sich. Männer, Frauen, die Reichen bereicherten sich, die Armen übten sich in Geduld, die Tugend der Gerissenheit ersetzte die Arbeit:“ S. 136. Auf Seiten wie diese wird der Krimi wieder zum Sittengemälde, das den Untergang einer ganzen Gesellschaft protokolliert, die wie auf eine Achterbahn selbst verschuldet der Weltwirschaftskrise und dem definitiven Untergang entgegenrauscht, anstatt Dämme gegen die Flut zu bauen, zerstören sie den letzten Anstand und reißen alle ins Verderben: „Die Krise wird uns erreichen, das ist nur eine Frage der Zeit.“ S. 141 – Eine Rettung ist nicht in Sicht, aber man sollte auch gar nicht glauben, dass so etwas passieren könnte: „Die Weltwirtschaftskrise war ein ferner Planet, den nur wenige Pessimisten sahen; nun ist es selten, und dies sei gesagt, ohne den Teufel an die Wand zu malen, dass Optimisten sehr lange recht behalten.“ S. 151
Und im Hintergrund und gar nicht mal so sehr im Hintergrund steht eine Diskussion über die Reaktionen auf den Nationalsozialismus mit der Machtergreifung Hitlers und des Faschismus in Italien. Dazu steht die beste Szene auf S. 373: „Wir werden morgen zusammen sterben,“ singt Solange auf der Bühne und der Führer ist wütend und verlässt die Oper.
Heiner Wittmann
1. Vgl. Heiner Wittmann, Die Weltwirtschaftskrise von 1929 und die französische Literatur, in: Heidi Beutin, Wolfgang Beutin, Heinrich Bleicher-Nagelsmann, Herbert Schmidt, Claudia Wörmann-Adam (Hg.) > “Wir müssen die Wahrheit über die barbarischen Zustände sagen“. Welt-Wirtschafts-Krisen und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft, Politik und Kultur. Mössingen-Talheim 2014, S. 45-66.
Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben...
Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben«, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Nun liegt sein neuer, hochgelobter Roman »Spiegel unseres Schmerzes« in deutscher Übersetzung vor.
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