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Lesebericht und Interview: Guillermo Arriaga, Das Feuer retten

Aufgezeichnet von Heiner Wittmann
7.5.2022

Was für ein Leseabenteuer ! Guillermo Arriagas neuer Roman »Das Feuer retten« ist in der so gelungenen Übersetzung von Matthias Strobel bei Klett-Cotta erschienen.

> Nachgefragt: Matthias Strobel hat den Roman Das Feuer retten von Guillermo Arriaga übersetzt

Marina Longines ist Tänzerin und Choreographin und führt ein völlig normales Leben mit Mann und Kindern. Die Einladung in einem Gefängnis, wo viele Schwerverbrecher einsitzen, mit ihrer Truppe zu tanzen, wird in kürzester Zeit ihr Leben total auf den Kopf stellen. Es ist José Cuauhtémoc, ein gescheiter Indio und mehrfacher Mörder, der Marina den Verstand rauben wird. Buchstäblich.

Lesebericht und Interview: Guillermo Arriaga, Das Feuer retten
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Der Klappentext: „Er vereinigt in sich all das, was Mexiko zu dem gemacht hat, was es heute ist: die Gewalt, die Ungerechtigkeit und ungleiche Verteilung, die Unterdrückung der Ursprungskultur durch skrupellose Eroberer.“ Er sitzt im Gefängnis, sie in einer wohlgeordneten Familie. Nichts würde die beiden zusammenkommen lassen und dennoch entwickelt sich rasant eine Leidenschaft zwischen den beiden, die nicht nur alle Konventionen hinter sich lässt, sondern die auch trotz der Situation von José als Gefangener, beide in die Liebeszelle führt, in der sie ihre Zuneigung zueinander grenzenlos ausleben. Marina verfällt José regelrecht und erlebt mit ihm ungeahnten Liebesrausch. Größer könnte der Kontrast zwischen Enge, Gewalt, Zwängen und ihrer Liebe kaum sein.

Lesen Sie laut vor und Sie werden schnell merken, dass dieser Roman selbst eine einzigartige Schreibwerkstatt ist.

„Das Leben hat sehr unterschiedliche Tempi und Rhythmen…“ S. 205

„Die Texte der Häftlinge bewegten mich zutiefst…“ S. 219

„Wir betraten die Haftanstalt… Ich geriet fast in Panik… Wir gelangten auf einen schmalen Flur… Wir betraten den Unterrichtsraum…“ S. 243 f.

„Abends strich er durch…“ S. 299 bis „… auszudenken.“

Der Roman beginnt mit den erbarmungslosen Bandenkrieg zwischen den Verbrecherkartellen um Einfluss, Geld und Mordtaten. Die Kartelle wie Aquellos, Narcos oder Otros-Otros lassen aneinander kein gutes Haar. Jede ihrer Zusammenstöße ist von unglaublicher Gewalt, Mord und Totschlag geprägt. Der Roman liest sich auch wie eine Anklage, ein Bericht über das Verbrechen, das wie ein Strudel alles verschlingt.  Eine Ruhepause gibt es nur im Gefängnis. Und auch dort nicht oder nur, weil alles durchkonstruiert wie u. a. mit den  strengen Regeln für den Handyerwerb und die dann fälligen „Gebühren“ für die Empfangsfreigabe. Seltsam, wie sich die Haftanstalt ihre eignen Sozialgesetze schafft, brutal wie draußen und zugleich geordnet mit bestimmten Regeln wie nur hier: „Wer die Küche kontrollierte, kontrollierte das Gefängnis.“ Die Aufseher scheinen die Angestellten der Häftlinge zu sein. Und dann sind da die besonderen Suiten für die besonderen Häftlinge, besonders, weil sie vielleicht besonders gefährlich, besonders gerissen waren. Diese interne Gefängnissozialstruktur erlaubt kein Entrinnnen. Wer ihr entkommt, wird sich kaum an eine andere Form des Lebens gewöhnen können. In der Haftanstalt sind nur der Willkür Tür und Tor geöffnet und hinter José schließt  sich für mehrere Wochen die Tür der Einzelstrafzelle, in der er gerade nur mal stehen kann.

Wie gesagt: Vor- und Rückblenden: Die Geschichte von José setzt sich immer mehr wie ein Mosaik zusammen

Heute abend ins Kino? Oder doch lieber zu Hause bleiben? Unsere Redaktion hätte da eine Leseempfehlung für Sie: Guillermo Arriaga, > Der Wilde, aus dem Spanischen übersetzt von Matthias Strobel. Die fast 750 Seiten halten mehrere Abende vor, eine Zugfahrt passt in diese Lesephase auch noch rein. Dicke Bücher sind wie verlängertes Kino, man taucht völlig ab und in diesem Buch ist es Guillermo Arriga gelungen, einen Roman zu verfassen, der durch seinen Aufbau, seine Konstruktion, weitere parallel verlaufende Geschichten, den zahlreichen und trotzdem wohl dosierten Rückblenden – oder auch Vorblenden – eine diesem Roman ganz eigentümliche Spannung verschafft, die den Leser (unerbittlich) bei der Stange hält…“

> Lesebericht: Guillermo Arriaga, Der Wilde

Mitten in diesem Chaos finden sich Dienstags- und Donnerstagsvormittag Gefangene und Marina in der die Schreibwerkstatt zusammen. Und die Texte der Häftlinge lesen sich wie Lektionstexte in einem Sprachbuch, danach folgt immer der Fortgang der Geschichte. Sicher, sie erscheinen unvermittelt, aber die Heftigkeit ihrer Sprache, ja zuweilen geradezu ein Aufschrei, sich mittels des Schreibens neue Perspektiven zu verschaffen: „Du stichst zu…“, S. 460 –  „Die Feindin. Angst. Männer haben Angst…:“ S. 408  – „Afrikanische Fauna/wohnte in mir…“, S. 353 – „Ein Teil von mir. Ein Teil von mir will bleiben, der andere will gehen…“ S. 625. Wie bei einem Kriminalroman ist hier ein Bericht über den Fortgang der Erzählung nicht angebracht, um Ihnen ja nicht die Spannung zu nehmen. Soviel ist aber klar, José könnte Marina in das völlige Verderben stürzen, wieso vertraut sie ihm? Liebe kennt keine Grenzen. Oder doch? Vielleicht wird diesen ungestümen Sturm der Leidenschaft doch Einhalt geboten. Es sieht nicht danach aus.

Marina lässt sich in ein Abenteuer hineinreißen, dessen Verlockungen sie nicht widerstehen kann. Warum? Vielleicht weil sie als Künstlerin  spürt, wie die Ereignisse ihre Kunst verändern: da tobt das Leben und so entwickeln sich auch ihre Choreographien genauso ungestüm weiter. Und vielleicht lernt sie in der Schreibwerkstatt mehr von den Häftlingen als die von ihr.

Kunst ist immer auch eine Interpretation der Wirklichkeit und so wie sie in Worte oder in ein Kunstwerk gefasst wird, verändert sich der Blick auf die Wirklichkeit, neue Perspektiven zum Verstehen und zum Handeln tun sich auf. Es ist dieser Kernaspekt der Kunst, der hier alle Gewalt, wie sonst auch, überragt und neue Perspektiven aufzeigen kann. Diese Aufgaben der Kunst hat Arriaga so meisterlich in seinem Roman dargestellt. Und nebenbei auch noch das Verhältnis von Liebe und Kunst in eine beeindruckende Form gebracht. „Ich wusste, dass meine Choreographien Fluss hatten…“ Lesen Sie hier laut weiter: S. 64-71. Was macht eine Choreographie, ein Kunstwerk, eine Inszenierung bemerkenswert? Oder einen  Roman? Und dann die Aufführung in der Haftanstalt: Wieder laut vorlesen: „Die Häftlinge beäugten uns neugierig…“ S. 152-154.

Ein paar Tage nur gelesen, und zwischendurch notwendigerweise die täglichen Verrichtungen absolviert. Welch ein Leseerlebnis.

Das Feuer retten

Roman

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Beteiligte Personen

Guillermo Arriaga

Guillermo Arriaga, geboren 1958 in Mexiko-Stadt, gehört zu den bedeutendsten Drehbuch- und Buchautoren der Gegenwart. Von ihm stammen die Drehbücher zu de...

Guillermo Arriaga, geboren 1958 in Mexiko-Stadt, gehört zu den bedeutendsten Drehbuch- und Buchautoren der Gegenwart. Von ihm stammen die Drehbücher zu der mit mehreren Oscars ausgezeichneten Filmtrilogie Amores Perros, 21 Gramm und Babel. Neben seinen Drehbüchern hat er bislang drei Romane und einen Kurzgeschichtenband veröffentlicht; dieser neue, hier vorliegende Roman markiert einen Höhepunkt in Arriagas Werk.

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