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Lesebericht: Adam Soboczynski, Traumland. Der Westen, der Osten und ich

Verfasst von Heiner Wittmann
1.10.2023

Dieses Buch hat unsere Redaktion zweimal gelesen. Es ist eine Hymne auf das Traumland, unser Traumland. Also, einmal gelesen, die 17 Essays, weil jeder einzelne für sich so gut geschrieben ist, und dann nochmal gelesen, um wirklich dem Zusammenhang dieser Essays untereinander auf den Grund zu gehen.

Auf 167 Seiten stellt Adam Soboczynski in seinem jüngst bei Klett-Cotta erschienenem Buch »Traumland. Der Westen, der Osten und ich« nicht nur eine eigene Biographie, sondern auch ein so kurzgefasstes wie präzises Geschichtsbuch vor, dass das Verhältnis von Ost und West, das Ende des Kalten Krieges, die „Jahre der großen Freiheit von 1989-2022“ und das sich nun abzeichnende Auseinanderdriften von West und Ost, in den Blick nimmt.

Lesebericht: Adam Soboczynski, Traumland. Der Westen, der Osten und ich

Als kleiner Junge kommt Adam Soboczynski 1981 zusammen mit seinen Eltern aus Polen nach Koblenz. Nach Niemcy, sozusagen in das Paradies, wo alles funktioniert und es keine Schlangen gibt. Und jetzt beginnen quer durch die Essays mehrere Erzählebenen. Da ist immer wieder der ständige Vergleich, wenn die Familie wiederholt zu den Verwandten und den Großeltern in das heimatliche Polen reist und von neuem ausreisen, in das Paradies zurückkommen kann.

Mit Feingefühl für viele Details schildert der Autor seine Schuljahre. Unmusikalisch war er und litt unter seiner Musiklehrerin und ihren Schlägen und dann beobachtet er die „Hierarchisierung der Einwandergruppen“, später nannte man das - gefördert durch das Schulsystem - „strukturellen Rassismus“, an dem sich damals offenkundig niemand störte.

Dann fiel die Mauer. „Reingelegt“? Hätten die Eltern nur acht Jahre in Polen warten müssen? Und jetzt beginnt ein weitere Erzählstrang in diesem Buch, der die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West unter die Lupe nimmt; war diese Osmose überhaupt möglich, war die Anziehungskraft des Westens groß genug? Oder unterschätze der Westen das Beharrungsvermögen im Osten? Wie schätzte man gegenseitig die Erwartungen ein? Gab es im Osten überhaupt eine Neugier auf den Westen? S. 41: Bevor sie entstehen konnte, gab es im Westen schon die „Angst vor einer Wirtschaftskrise und einem neuen Nationalismus“. Ungeduld machte sich im Osten breit. Wie schnell war der Jubel über den Mauerfall vergangen, Eier flogen auf den Kanzler.

Ist es die „Magie der Vergangenheit“, die die Entwicklung im Osten bremste? Und im Westen? Es stimmt, außer dem Solidarbeitrag bekam man im Westen von der Wiedervereinigung nicht so viel mit. Es sind „Die Jahre der Freiheit“, Schule und Universität in Bonn, die Soboczynski so nachhaltig geprägt haben, 68 wirke noch ein bisschen nach … diese Jahre waren von einem gewissen Abstand zum „politischen Getöse“ bestimmt. Bonn versank nach dem Wegzug der Regierung wieder in seinen Dornröschenschlaf und mit vielen Details lässt Soboczynski die Moden jener Jahre Revue passieren: Handy, online bestellen, die Freelancer tauchen auf, die Ich-AG wird erfunden, Projekte statt Arbeit. Und wieder Verwandtenbesuch in Polen: das Kontrastprogramm, das den Blick für die Entwicklungen im Westen immer von neuem schärft.

Soboczynski zieht nach Berlin, verfasst Werbetexte und hat ein kritisches Auge für die allumfassende Freiheit. Man könne wirklich alles sagen … nur war die Wirkung sehr gering. Die polnischen Verwandten schelten nach den Rechtspopulisten, das gab Streit mit der Familie im Westen. Die Reisen des Autors nach Paris, nach Wien und Moskau schärfen seinen Sinn für die Unterschiede.

Und dann der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Die deutsche Ostpolitik, „ihre als Friedenspolitik deklarierte Handelspolitik“, lag in Trümmern. 

Jetzt geht es darum, das Traumland, den westlichen Liberalismus zu bewahren. Passen aufkeimende Moderne und dörfliche Traditionen nicht zusammen? Aber man sollte den Osten schon gut kennen, dann könne man schon einige Fragen denjenigen stellen, die den Liberalismus als „eine perfide Strategie zur Knechtung der Welt“ (S. 165) verstehen wollen.

Wie gesagt, eine Biographie und ein Geschichtsbuch zusammen in einem so gelungenen Band.

Heiner Wittmann

Traumland

Der Westen, der Osten und ich

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Beteiligte Personen

© Maximilian Gödecke

Adam Soboczynski

Adam Soboczynski, geboren 1975 im polnischen Toruń, lebt in Berlin und Hamburg und leitet das Ressort Literatur im Feuilleton der ZEIT. Er schrieb mehrere...

Adam Soboczynski, geboren 1975 im polnischen Toruń, lebt in Berlin und Hamburg und leitet das Ressort Literatur im Feuilleton der ZEIT. Er schrieb mehrere erzählerische Sachbücher, darunter »Die schonende Abwehr verliebter Frauen«. Seine Werke wurden ins Spanische, Französische, Polnische, Italienische und Niederländische übersetzt. 2015 erschien sein Roman »Fabelhafte Eigenschaften« bei Klett-Cotta.

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