Howard Jacobson hat mit »Rendezvous und andere Alterserscheinungen« einen Roman und damit eine Abhandlung über Erinnerungen jeder Art und ihre (selektive) Verarbeitung geschrieben. Mit einer guten Prise ziemlich schwarzen Humors.
Beryl Dusinbery ist schon über 90 und hat Schwierigkeiten, sich an Dinge zu erinnern, während die rüstige Shimi Carmelli am liebsten alles nur vergessen würde. Nichts hat sie füreinander bestimmt, aber alles steuert langsam aber umso stetiger ihre Begegnung zu. Auf S. 224 steht das Motto und zugleich das Thema für dieses wunderbare Buch: „Einige der Begleiterscheinungen des Alters sind frei wählbar.“ Wir treffen beide in ihrem hohen Alter. Alles wäre noch richtig gut, wenn da nicht das Problem mit der Erinnerung wäre: „Wie hießen diese Kekse? Wie hieß der Ort?“ (S. 17)
Shimi Carmelli hat sich bis 91 „die Verlegenheit eines Jungen“ (S. 24) bewahrt. Schon nach zwei Kapiteln sind uns die beiden mit ihren Schrullen und Eigenheiten gut vertraut und werde es immer mehr. Während Beryl Dusinbery stickt, „verlässt die Seele ihren Körper“ (S. 34). Ihr Selbstbewusstsein ist dennoch ungebrochen: „Wahr ist etwas, wenn ich es sage.“ (ib.) Und überhaupt „Chronologie ist etwas für Hänflinge.“ (S. 37) Shimi Carmelli hat genügend Zeit und Stoff, um über Früheres nachzudenken… Im Park begegnet er einer alten Dame, zwischen zwei Betreuerinnen , die ihn für Horowitz hält.
Gedächtnislücken hin oder her, die Erinnerungen prägen die Tage Beryl Dusinberys. Manchmal hilft sie mit iIPad Übungen ein bisschen nach. Sie die langjährige Leiterin des Fachbereichs Englisch an einigen der besten Mädcheninternate, aber das ist schon lange her. Jetzt orientiert sie sich und Euphoria an dem von ihr verfassten Instandhaltungsleitfaden (S. 94). Und sie erinnert sich an alle Etappen ihrer Lehrerkarriere.
Shimi Carmelli hatte keinen nennenswerten Schulabschuss, aber bei Onkel Raffi konnte er Bestandskontrolleur werden: „Aber man sollte nie annehmen, man würde die Geschichte seines Lebens bereits kennen, bevor es nicht vorbei ist.“ (S. 132) Gedächtnislücken sind selektiv, da wird ausgewählt und gelöscht: „Das Gedächtnis ist ein Sadist.“ (S. 163) Vielleicht behält es immer nur das Unwichtige und Ärgerliche. Was man vergessen will, taucht zuerst oben auf. Darum geht es also in diesem Buch, ein Spiel um den Wert der Erinnerungen und wie man mit ihnen umgeht. Die Lektüre zeigt uns, wie die Erinnerungen, oder das was davon übriggeblieben ist, die Gegenwart der Protagonisten bestimmen.
Aktuelle Schicksalsschläge, wie der Tod von Shimi Carmelli jüngeren Bruder Ephraim vermischen sich mit Erinnerungen: „War das Leben damals ein einziges Grinsen?“ (S. 195) In Kapiteln wie diesem zeigt sich das beeindruckende Einfühlungsvermögen von Howard Jakobsen in die Figuren seines Romans. Warum waren Shimi Carmelli und seine Bruder getrennte Wege gegangen?
Als er den Friedhof verlässt, wir sind schon auf Seite 125, passiert es. Gleich neben dem gotischen Bogenportal sitzt „eine alte Dame auf eine moosbewachsenen Bank.“ (S. 225) Sie kommen ins Gespräch. Die alte Dame hat Ephraim gekannt.
Im zweiten Buch werden die Fäden der Erinnerungen zusammengefügt. Shimi Carmelli berichtet über Ephraim: „Wir beide wollen das vollständige Bild des Mannes.“ (S. 237) Und es muss Regeln dafür geben: Grundregeln: S. 146 ff. für den Umgang oder die Rekonstruktion der Erinnerungen. Und bei ihren weiteren Treffen gehen sie diese Aufarbeitung ganz systematisch an. Und dann lädt sie ihn ein, zu ihr zu kommen.: „In meine bescheidene Hütte. Fassen Sie sich ein Herz.“ (S. 281) Nach einigem Hin und Her willigt er ein. Sie schreibt ihm ihre Adresse auf. Wie er wohnt sie auch in der Finchley Road. Nein, einziehen wolle er nicht gleich bei ihr: „… jünger werden wir beide auch nicht…“ (S. 320) Aber sie hat ein Gästezimmer… „Es ist niemals für irgendetwas zu spät.“ (S. 389)
Howard Jacobson, 1942 in Manchester geboren, zählt zu den renommiertesten Autoren Großbritanniens. Seine Romane erscheinen in zwanzig Ländern und wurden v...
Howard Jacobson, 1942 in Manchester geboren, zählt zu den renommiertesten Autoren Großbritanniens. Seine Romane erscheinen in zwanzig Ländern und wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. 2010 mit dem Booker-Preis.
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