Zum dritten Mal erscheint bei Klett-Cotta ein Roman von Iris Wolff. Nach »Die Unschärfe der Welt« und »So tun, als ob es regnet«, kommt jetzt im Januar »Lichtungen«, ein Roman, der die Geschichte von Lev (Leonhard) und Kato erzählt, die am Krankenbett von Lev, der mehrere Wochen lang ans Bett gefesselt war, zueinander finden. Kato erklärt ihm die Schulaufgaben und besucht ihn auch, wenn es ihm schlechter geht. Sie ist ihm ein Halt, von ihr fühlt er sich beschützt. Es ist die Endzeit des kommunistischen Rumäniens. Das Regime geht unter und Lev verliert Kato, die in den Westen gegangen ist, aus den Augen.
Kato zeichnet gerne und Lev bewahrt als einzige Erinnerungen an sie einige Postkarten mit ihren Bildern aus ganz Europa, das sie in den Sommermonaten mit Tom zusammen durchquert. Er denkt oft an sie, besonders an den Stationen, wo sie als Kinder zusammen waren.
»Lichtungen« ist auch der Bericht über eine Spurensuche. Da ist zuerst die Wiederbegegnung in Zürich. Nach einem halben Leben hatte Kato sich bei Lev gemeldet: „Wann kommst du?“ (S. 19) Und Lev macht sich auf, Kato wiederzutreffen. Ist es ein zufälliges Treffen? Sie wollten sich wiedersehen, sich verabreden, aber das eigentliche Zusammenkommen ist dann doch eher zufällig, etwas unverbindlich statt eines herzlichen Wiedersehens: „Was machst Du hier?“ – „Ich hatte so ein Gefühl.“ (S. 17) Dann liefert Kato ihn bei einer Pension ab.
Kato hängt an ihrer Malerei und schwärmt von Rom mit der „Klarheit und Weite“ der Stadt. Er besucht sie an ihrem Pitch und bewundert, wie sie Botticellis Venus kopiert. Später am Abend sind sie an einer Uferwiese und kiffen zusammen. Nebenbei erzählt sie, dass Tom in Freiburg bleibe und sich dort verliebt habe. Es sind Sätze wie diese, „In der Nacht, nach der Polizeikontrolle, hatten sie vom Deutschen ins Rumänische gewechselt. In dieser Sprache öffneten sich andere Räume, ein Wort berührte das andere, lebendig vertraut. Die Wörter waren vom Gebrauch abgegriffen, hatte Ecken, ein Eigenleben,“ die in ihrer so verkürzten ja auch poetischen Form genau das Heimatgefühl evozieren, das Iris Wolff mit »Lichtungen« ihren Lesern so besonders eindrucksvoll vermittelt.
Das Wiedersehen mit Kato verstärkt Levs Suche nach Erinnerungen. Er denkt an den Tag, als Kato ihm ihren Hausschlüssel in die Hand drückte und er sie noch bat: „ ,Schreib mir Postkarten aus jedem Land.‘ – ,Versprochen,‘ sagte sie leise.“ (S. 50 f.)
Lev hatte die Schule verlassen und arbeitete in einem Sägewerk. Später beschafft er sich ein Fahrrad und wollte seinerseits fortfahren, eine Reise, die er aber bald wieder aufgibt und zurückkehrt. Es folgen Erinnerungen an seine Großmutter Bunica. Und ganz so, als ob Lev in einem Tagebuch zurückblättert, denkt er an den Ausflug mit Kato, dann an seine Einberufung zum Militär. Er verweigert den Eid, kommt in ein Arbeitslager. Kaum ist er auf Urlaub zu Hause, bekommt er mit, wie Großvater Ferry sich in den Westen absetzen will.
Der Roman endet mit drei langen Kapiteln, in denen die Krankheit des 11-jährigen Lev erzählt wird. Es war wohl die Folge eines Unfalls, der auf den letzten Seiten nur angedeutet wird.
Wie in ihren beiden vorhergehenden Romanen, klingen hier Erinnerungen an die Heimat der Autorin in Siebenbürgen an. Mit der so geschickten Komposition ihres Romans gibt die Autorin zu verstehen, in welch starkem Maße die Kindheits- und Jugenderinnerungen das Leben der Erwachsenen definieren. Die Öffnung nach dem Westen wird zur Kenntnis genommen, ohne im Einzelnen genau thematisiert zu werden, aber sie hat doch die Lebenswege von Kato und Lev völlig verändert. Ohne die Grenzöffnung wären sie möglicherweise zusammengeblieben … das ist nur eine Vermutung, die aber nie ausgesprochen wird. Der Umbruch von 1989, das Ende des kommunistischen Regimes, eröffnet Kato eine neue Welt, die sie geradezu sehnsüchtig bereist, während Lev zurückbleibt. Er ist es, der die Veränderungen aufgrund seiner Erinnerungen vielleicht besser verstanden hat als Kato, die eher nur für ihre Kunst lebt. Beide geben je eine unterschiedliche Antwort auf die grundlegende Frage, kann man sich – mit welchen Folgen – aus der Erinnerung lösen?
Heiner Wittmann
Iris Wolff, geboren in Hermannstadt, Siebenbürgen. Die Autorin wurde für ihr literarisches Schaffen mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter mit de...
Iris Wolff, geboren in Hermannstadt, Siebenbürgen. Die Autorin wurde für ihr literarisches Schaffen mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Marieluise-Fleißer-Preis und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Die Unschärfe der Welt«, der mit dem Evangelischen Buchpreis, dem Eichendorff-Literaturpreis, dem Preis der LiteraTour Nord und dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet sowie unter die fünf Lieblingsbücher des Deutschen als...
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