Juno erträgt ihre Lebensumstände mit Geduld und Ausdauer. Aber sie ist regelmäßig auch in den sozialen Netzwerken unterwegs. Wie viele andere hat auch sie den Reflex, immer wieder das Handy zur Hand zu nehmen, mit dem Finger schnell zu tippen, zu wischen, Instagram und Co. zu öffnen, oder „gleich zu den Direct Messages“ zu gehen, immer mit der mehr oder weniger unbewussten Hoffnung, es werde sich mal wieder jemand für sie interessieren. Und wirklich, es melden sich immer wieder Männer, wohl ohne Ausnahme mit Phantasienamen, die irgendwo auf der Welt auch in ihre Bildschirme gucken und nach Kontakten suchen. Love-Scammer werden sie genannt. Sie machen sich die Hoffnung, wenn Juno ihnen antworten würde, wenn sie nur mit ihnen spreche … vielleicht ließe sich daraus etwas machen. Juno möchte das natürlich nicht wirklich, aber die virtuellen Bekanntschaften verursachen in ihr doch schon das gewisse Prickeln, weil sie diese künstliche Welt als Ausgleich oder Gegenpol zu ihrem ziemlich anstrengenden Alltag gerne an sich heranlässt.
Mit Love-Scammern in Kontakt zu treten, bedeutet für Juno auch, ihnen Unwahrheiten zu erzählen, um so ihre Neugier zu steuern, vielleicht ein bisschen als Rache dafür, dass diese Unbekannten es immer wieder schaffen, Frauen so zu umgarnen, bis es ihnen geling, ihnen ihre Liebe zu übermitteln und diese Frauen zu veranlassen, ihnen nicht unerhebliche Summen Geld zu schicken.
Juno findet immer mehr Gefallen an den Chats mit Unbekannten. Sie beschränkt sich darauf, ihnen ihre Gedanken (vgl. S. 20) zu schreiben. Und sie merkt, dass dieser Austausch nicht ganz ohne ist, weil ihre Gesprächspartner doch offensichtlich ihr Instagramprofil kennen. Sie kommt sich zuweilen so vor, als wenn sie mit einer zweiten Identität leben würde.
Bis Benu auftaucht. Er lebt in einer Stadt im Südwesten von Nigeria. Mit Benu beginnt nun ein langer Austausch. Sie erzählt ihm von ihren Alltagsnöten, Benu gibt Ratschläge und Juno empfindet ein bisschen Geborgenheit, auch wenn diese virtuell bleibt. Dennoch bleibt die Welt für sie zweigeteilt: „Juno steht vor ihrer Wirklichkeit, die sie den Scammern verschweigt, und sie ist eine undurchdringliche Wand.“ (S. 44)
Von ihren Chats erzählt sie Jupiter nichts, der würde sie ohnehin nur für naiv halten. Irgendwann kommt der Punkt, an dem die Love-Scammer um einen Videocall bitten (vgl. S. 69 ff.; S. 115). Sie zögert, findet dann den Austausch via Bild und Ton doch spannend, behält aber doch ein schlechtes Gewissen, besonders gegenüber Jupiter. Aber auch gegenüber Benu, den sie angelogen hatte, um sich zu produzieren, eigenes Ungeschick zu verbergen oder um ihn zu beeindrucken? „Eine Art Gegenentwurf, nur zu was genau?“ (S. 100 und vgl. S. 116) Aber es kommt, wie es kommen musste: Eines Abends nach dem „drippelnden Perlenton des Videocalls“ (S. 167) gesteht Benu ihr seine Liebe. Sie droht ihm, den Kontakt zu löschen. Er bleibt hartnäckig …
Martina Hefters Roman zeichnet sich ganz besonders durch seine wohl durchdachte Komposition aus. Die vielen wörtlichen Zitate aus den Chats strukturieren ihren Alltag, machen ihn für sie erträglich, öffnen ihr neue Perspektiven, weil die Antworten ihrer Love-Scammer sie dazu bringen, anders über ihren Alltag nachzudenken. Aber es gibt auch ein bisschen Sucht dabei, wenn sie immer wieder zum Handy greift, in der Hoffnung, eine neue Message sei angekommen. Fast gehen die Theaterszenen dabei ein wenig unter und als Performance-Künstlerin spielt sie auf beiden Klaviaturen, auf der Bühne und auf dem Display.
Heiner Wittmann