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Lesebericht: Bernie Sanders, Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein

Verfasst von Heiner Wittmann
3.11.2023

Donald Trump als Präsident und der von ihm verursachte Niedergang der Republikaner, das Chaos im Senat, der Angriff auf den Kongress, mit dem die Anhänger Trumps ihre Wut über die Wahlniederlage ihres Idols ausdrücken wollten, tragen wenig dazu bei, sich auf eine Reise in die USA zu freuen. Die Lektüre von Senator Bernie Sanders, »Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein« ändert alles, denn dieses Buch ist außer der Kritik am Hyperkapitalismus auch eine gelungene und spannende Einführung in das Verständnis der Politik, die heute die Vereinigten Staaten prägt.

Lesebericht: Bernie Sanders, Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein

Bernie Sanders entwickelt zunächst die Geschichte seines 2. Wahlkampfs zur Präsidentschaft, der zunächst so erfolgreich verlief, bis er aber dann doch am 8. April 2020 den Rücktritt von seiner Kandidatur erklärte und Joe Biden seine uneingeschränkte Unterstützung versprach. Fortan arbeitete sein Wahlkampfteam mit dem von Biden eng zusammen und es gelang in ihren Gesprächen, das Programm von Biden in eine progressivere Richtung zu bringen.

Der Verzicht auf die Kandidatur wurde von Sanders keineswegs als sein politisches Ende verstanden, das jetzt vorliegende Buch »Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein« ruft sein Wahlprogramm in Erinnerung, erläutert seine grundlegende Kritik am Hyperkapitalismus und beschreibt parlamentarische Kämpfe und Probleme im Senat in den ersten beiden Jahren unter der Administration Biden sowie seine Visionen, wie die USA reformiert werden sollten, wobei er sich auf das Gesundheitssystem, die schulische Ausbildung und die Medien konzentriert. Dabei wird deutlich, dass diese drei Bereiche nur schwer zu reformieren sind, da immer mehr Milliardäre über ihre Pfründe gierig wachen, die Schere zwischen Arm und Reich besonders während und nach der Pandemie sich immer weiter öffnet, wodurch notwendige Reformen immer mehr in weite Ferne rücken.

Sanders lässt sich durch das Ergebnis seiner Analyse überhaupt nicht entmutigen: „Wir sind im Klassenkampf. Schagen wir zurück!“ lautet die Überschrift seines 10. Kapitels mit dem Untertitel „Wir müssen dem Kapitalismus endlich die Stirn bieten und grundlegenden Wandel in einem korrupten und manipulierten System einfordern.“ Sanders tritt für einen systemischen Wandel als conditio sine qua non für sein Land ein, weil der Wandel nur von unten nach oben gehe und weil echte Politik nur allzugut wisse, dass die wirtschaftlichen Eliten niemals eine Politik unterstützen werden, die ihren Reichtum und ihre Macht gefährden würden. (S. 302) Und dann folgt ein konkreter Maßnahmenkatalog: U. a. die Wahlkampffinanzierung grundlegend neu regeln, das Wahlrecht verteidigen, das Electoral College abschaffen, den US-Senat reformieren, die Funktionsweise des Obersten Gerichtshofes reformieren und die amerikanische Medienlandschaft neu beleben wie auch die Gesundheitsfürsorge als ein Menschenrecht zu begreifen.

Die Überschriften der Abschnitte in seinem Vorwort sind Analyse und Programm zu gleich: „Amerika gehört den Oligarchen“, „Dem wirtschaftlichen und politischen Establishment die Stirn bieten“, dazu gehört auch die eigene Partei, die nervös wurde und die ihn nicht unterstützte, als sich Wahlerfolge von Sanders begannen abzuzeichnen. Und die Medien, die – allen voran die Washington Post, die eine Salve negativer Artikel abfeuerte  – alles taten, um ihn zu diskreditieren. Und da waren die Wähler:innen der Demokraten, die sich zugunsten der Eliten und Besserverdienenden im Stich gelassen fühlten und zu den Republikanern überliefen. (vgl. S. 17) Sanders spart nicht mit Kritik an der eigenen Partei und findet für ihre Versäumnisse harsche Worte. Es waren vor allem diejenigen, die zweimal für Barack Obama in der Hoffnung auf „Wandel“ und „Yes, we can“ gestimmt hatten und bitter enttäuscht worden waren. Die Kritik an den Demokraten könnte kaum deutlicher sein. Und dann seine Enttäuschung über das gescheiterte Wiederaufbauprogramm 2021, das aufgrund der politischen Konstellation und der Blockade der Republikaner aber auch der eigenen Reihen so verwässert wurde. Die Folge war der Absturz der Umfragewerte für Joe Biden.

Das erste Kapitel „Not me, us“ beschreibt den Wahlkampf 2020 und Sanders Versuche, grundlegende Reformen einzufordern, u.a. mit einer geschickten Art, den politischen Einfluss der sozialen Medien zu nutzen. Der Grund für Sanders Wahlerfolge waren seine erfolgreichen Versuche, die „Wähler*innen in ihrer eigenen Sprache anzusprechen“, zuzuhören und dorthin zu gehen, wo Nichtwähler lange nicht besucht worden waren. Wie macht man das? „Dem Statuts quo die Stirn bieten“. (vgl. S. 48-55) Und tatsächlich machte Sanders sich auf den Weg, die Demokratische Partei von einer der „Großspender*innen und Konzerninteressen dominierten Wahlmaschinerie in eine multiethnische, städtische wie ländliche Bewegung der Arbeiterschicht zu verwandeln.“ Was ein Hoffnungsschimmer für die Demokraten hätte werden können, wurde von ihnen als Alarmsignal missverstanden und Sanders wurde ausgebremst: S. 52-54.

Und dennoch beharrte Sanders auf seinen Erfolgen und brachte seine Graswurzelbewegung in die Verhandlungen mit dem Wahlkampfteam von Joe Biden ein und trug in erheblichem Maße dazu bei, ihm eine progressive Agenda zu verpassen. Aber dann, – im 3. Kapitel – als es nach der Wahl an das Wiederaufbauprogramm ging, fiel es den Demokraten so schwer, die Versprechen eines grundlegenden Wandels zu erfüllen. Es ist gerade dieses Kapitel, das einen so guten Einblick in die Funktionsweise des Senats, die Beharrungskräfte und die Widerstände auch in den eigenen Reihen gibt. Sanders Schlussfolgerung im 4. Kapitel „Milliardär*innen sollte es nicht geben“ und Kapitel 5 „Schluss mit der Gier im Gesundheitswesen“. Für Sanders ist die Wahl der Seite eine eindeutige Sache: Kapitel 6 „Which side are you on?“ „Auf der Seite der Arbeiterklasse in Zeiten tödlicher Ungleichheit.“ Folglich müssen – Kapitel 7 – „Beschäftigte, nicht CEOs, die Zukunft der Arbeit in Amerika bestimmen.“ Das Kapitel 8 über das Bildungswesen liest sich wie ein Schlüssel zu den anstehenden Veränderungen. Auch hier gilt Sanders Grundsatz, zuzuhören, was Lernende und Lehrende zu sagen haben, denn sie müssen bei der Bildungsreform an erster Stelle stehen und wieder folgt eine Aufgabenkatalog: S. 322-326. Gleichzeitig müsse das Mediensystem radikal reformiert werden, da es auf dem Weg sei, eine Krise des Journalismus zu verursachen, die direkt in eine Krise der Demokratie münden wird.

Mit der Lektüre dieses Buches kann man viel über die USA lernen und nicht nur indirekt auch einiges über die Gründe für die Wahlerfolge von Trump verstehen. Sanders würde jetzt noch hinzufügen, die Demokraten sind es schuld, weil sie das Establishment und die Milliardäre schützen, die die so dringenden Reformen, die das Land braucht, verhindern.

Heiner Wittmann

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Beteiligte Personen

Bernie Sanders

Bernard »Bernie« Sanders, geboren 1941 in New York City, ist US-amerikanischer Politiker und vertritt seit 2007 den Bundesstaat Vermont im Senat. Er bewar...

Bernard »Bernie« Sanders, geboren 1941 in New York City, ist US-amerikanischer Politiker und vertritt seit 2007 den Bundesstaat Vermont im Senat. Er bewarb sich zweimal um das höchste politische Amt der USA. Als Kandidat bei der Vorwahl der Demokraten zur Präsidentschaftswahl 2016 gelang es ihm, viele junge Wählerinnen und Wähler für seine Reformvorstellungen zu begeistern. Vor seiner politischen Laufbahn arbeitete er u. a. als Dokumentarfilmer, Zimmermann und in verschiedenen sozialen Einric...