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6 Fragen an Yascha Mounk

15.12.2023

Lieber Yascha, dein neues Buch »Im Zeitalter der Identität« beschäftigt sich auf einzigartige und differenzierte Weise mit dem Phänomen der sogenannten „Woke“- Ideologie. Was hat dich persönlich dazu bewogen, ein ganzes Buch über das Thema zu schreiben?

Die einfache Antwort ist: In den letzten Jahren ist eine neue Ideologie entstanden, die in der Gesellschaft sehr schnell beträchtliche Macht erobert und die Denkart der Linken von Grund auf verändert hat. Als Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker fasziniert mich das: Eine neue Ideologie, die derart schnell an Einfluss gewinnt, entsteht nicht alle Tage.

Aber es gibt durchaus auch politische Gründe. Ich selbst bin seit jeher Linker, weil ich an universalistische Werte glaube: Daran, dass wir einander verstehen können, auch wenn wir verschiedene Hautfarben haben oder in verschiedenen Ländern aufgewachsen sind. Und daran, dass gegenseitige kulturelle Inspiration etwas Positives und nicht etwas Bedrohliches ist. Die neue Ideologie, die ich in »Im Zeitalter der Identität« beschreibe, verwirft diesen Universalismus - und stellt damit die Ambitionen, für eine Gesellschaft einzutreten, in der alle gleich sind, in Frage.

6 Fragen an Yascha Mounk

Wie kommt es, dass gerade progressive Linke, die sich als besonders aufgeklärt empfinden, diese Form der Identitätspolitik vorantreiben?

Ich beschreibe diese Ideologie als eine Falle. Und wie jede effektive Falle, hat sie einen attraktiven Köder, der imstande ist, auch intelligente und wohlwollende Menschen anzuziehen.

Ihre Fürsprecher behaupten, dass die „Woke“-Ideologie das radikalste, kompromissloseste Mittel sei, um Ungerechtigkeiten wie den Rassismus oder den Sexismus zu bekämpfen. Und da diese Ungerechtigkeiten in allen Gesellschaften - von den USA bis nach Deutschland - fortbestehen, beschert ihr dies verständlicherweise eine große Anziehungskraft. Das Problem ist nur, dass es sein Versprechen nicht einhalten wird: Anstatt Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen, wird es den Konflikt zwischen verschiedenen Identitätsgruppen nur verschärfen - und politisch gar den Rechtspopulisten helfen, die Macht zu ergreifen.


Warum löst die von dir beschriebene „Identitätssynthese“ - ein Kernbegriff deines Buches - nicht die Probleme derer, um die es wirklich geht und führt vielmehr zu einem „Backlash“?

Viele der Praktiken, die diese Ideologie in den letzten Jahren inspiriert hat, sind zutiefst kontraproduktiv. Um nur ein Beispiel zu nennen: In den USA teilen in vielen progressiven Schulen Lehrer ihre Schüler in verschiedene, nach der vermeintlichen „Rasse“ geteilte Gruppen ein - und zwar schon in der ersten oder zweiten Klasse.

Die Idee dahinter ist, Schülern ein tieferes Bewusstsein ihrer ethnischen Identität zu vermitteln. Die weißen Schüler sollen sich auf diese Weise ihrer Privilegien bewusst werden und so zu stolzen Antirassisten werden. Aber alles, was wir aus den Sozialwissenschaften oder unserer eigenen Geschichte wissen, zeigt, dass eher das Gegenteil eintreten wird. Wenn wir diesen Schülern beibringen, ihr weiße Hautfarbe zum wichtigsten Merkmal ihrer Identität zu machen, werden sie die Interessen ihrer eigenen Gruppe verfolgen - also eher zu Rassisten als zu Antirassisten werden.

Gleichzeitig schütteln viele Menschen ob solcher neuen Gepflogenheiten verständlicherweise den Kopf. Und das hat zu einem rapiden Vertrauensverlust in gesellschaftliche Institutionen geführt, der dann leicht von Rechtspopulisten wie Donald Trump ausgenutzt werden kann.


Wie lassen sich die gesellschaftlichen Spaltungsprozesse, die du am Beispiel Amerikas beschreibst, auf Deutschland übertragen?

Diese Ideologie ist in Deutschland noch nicht so dominant wie in den USA. Und zum Glück haben wir hierzulande noch nicht damit angefangen, den Begriff der „Rasse“ ganz so unkritisch zu betrachten wie in den USA. Aber gleichzeitig ist der identitätspolitische Wind auch hierzulande klar zu spüren. Die Angst vor der „kulturellen Aneignung“ greift auch hierzulande in Verlagen, Theatern und Filmstudios um sich. Die Behauptung, die deutsche Gesellschaft sei in Weiße und People of Color eingeteilt, wird auch in hiesigen Zeitungen immer wieder als unkontroverse Wahrheit dargestellt. Der Einfluss der Identitätssynthese wächst von Jahr zu Jahr.

Gerade deshalb ist es für Deutschland besonders wichtig zu verstehen, wo diese Ideen eigentlich herkamen, wie sie in anderen Ländern so rasant die Macht über wichtige gesellschaftliche Institutionen gewinnen konnten - und warum sie letztlich eine Falle darstellen. Denn wir haben gerade noch Zeit, uns gegen diese Ideen zu wehren - und so den Verlust an Vertrauen in wichtige Institutionen, sowie den Triumphzug der Rechtspopulisten zu verhindern.


Warum tut sich auch in Deutschland ein Teil der Linken schwer damit, den Terror der Hamas gegen Israel klar zu verurteilen?

In der öffentlichen Debatte gab es viele mögliche Erklärungen für dieses selektive Verhalten. Einige verweisen auf Antisemitismus. Andere betonen, dass die verständliche Besorgnis über das Handeln der israelischen Regierungen viele Aktivisten für das Leiden unschuldiger israelischer Zivilisten blind mache.

Beide Erklärungen enthalten ein Körnchen Wahrheit. Aber die Unfähigkeit, den schlimmsten Mord an jüdischen Zivilisten seit dem Holokaust klar zu verurteilen, hängt auch mit genau jener Ideologie zusammen, die ich in meinem neuen Buch beschreibe. Sie teilt die Welt in Weiße und „People of Color“, in europäische Kolonialherrscher und ihre Opfer - und verleumdet dann alle Israelis als weiße Imperialisten. Das verzerrt nicht nur die viel komplexere Realität im Nahen Osten – sondern zeugt auch von einer gefährlich manichäischen Weltsicht.

Jede humane Weltanschauung muss anerkennen, dass Zivilisten es niemals verdienen, aufgrund der Gruppe, in die sie hineingeboren wurden, zu leiden. Für mich ist jeder zivile Tod eine Tragödie von gleichem moralischem Rang. Wir müssen deshalb zu einem moralischen Universalismus zurückfinden, der uns auch in dunkelster Stunde an unsere gemeinsame Menschlichkeit erinnert und der den Tod von Unschuldigen - unabhängig davon, welcher Gruppe sie angehören - ohne Zögern beklagt.


Warum plädierst du vor diesem Hintergrund für einen philosophischen Liberalismus?

Eine Kernbehauptung dieser neuen Ideologie ist es, dass unsere Gesellschaft heute noch so ungerecht sei wie vor fünfzig oder hundert Jahren. Die wichtigsten Werte unserer Gesellschaft - also das, was wir in Deutschland die freiheitlich-demokratische Grundordnung nennen - hätten demnach nur den Zweck, diese Ungerechtigkeiten zu kaschieren. Um echten Fortschritt zu erzielen, müssten wir sie auf den Mülleimer der Geschichte werfen.

Aber das ist schlicht falsch. Trotz aller echten Probleme und Ungerechtigkeiten: Deutschland ist heute ein gerechteres und toleranteres Land als je zuvor in unserer Geschichte. Und der Grund dafür liegt gerade darin, dass Generationen an Aktivisten seit der Gründung der Bundesrepublik an die liberalen Werte unseres Grundgesetzes appelliert haben. Ähnlich sieht es auch in vielen anderen Demokratien aus. Von der Bürgerrechts- bis zur Queer-Bewegung: Wir haben immer dann politische Fortschritte erzielt, wenn wir die Hoffnung, unseren universalistischen Werten gerecht zu werden, ganz in den Vordergrund gestellt haben.

Im Zeitalter der Identität

Der Aufstieg einer gefährlichen Idee

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Beteiligte Personen

© Beowulf Sheehan

Yascha Mounk

Yascha Mounk, 1982 in München geboren, ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Darüber hinaus...

Yascha Mounk, 1982 in München geboren, ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Darüber hinaus hat er die einflussreiche Zeitschrift Persuasion gegründet und schreibt u.a. für die New York Times, den Atlantic und DIE ZEIT. Seit April 2023 gehört er auch zum Herausgeberrat der ZEIT.

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