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Lesebericht und Nachgefragt: Loel Zwecker, Die Macht der Machtlosen

Verfasst von Heiner Wittmann
4.9.2024

Es ist keinesfalls so, dass nur die großen Männer Geschichte gemacht haben. Immer wieder haben sich Historiker mit den grundlegenden Fragen beschäftigt, wie große Ereignisse angestoßen werden; welche strukturellen Gegebenheiten Veränderungen eingeleitet haben oder welchen Spielraum Kaiser, Könige und Fürsten hatten und wie heute Politiker agieren, um ihren Einfluss geltend zu machen. Und immer wieder spielt Fortuna eine Rolle, die Niccolò Machiavelli so ausführlich beschrieben hat, indem er die Wissenschaft von der Politik begründete. In seinem Buch vom Fürsten beschrieb er die Umstände, wie ein Fürst ein Land erobert, es bewahrt und wieder verliert. Die Veranlagungen des Fürsten, wie die historischen Umstände, wie auch die Dispositionen seiner Gegner spielten dabei unterschiedliche stark gewichtete Rollen.

Betrachtet man aber Geschichte über längere Zeiträume, so wie beispielsweise die Historiker der Annales-Schule mit Lucien Febvre oder Marc Bloch (»Die Apologie der Geschichte«) dies getan haben, so treten die Veränderungen von Strukturen in den Vordergrund.

Lesebericht und Nachgefragt: Loel Zwecker, Die Macht der Machtlosen

Nachgefragt bei Loel Zwecker

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Loel Zwecker schlägt uns einen anderen Zugang zur Geschichte vor. Sein Ansatz möchte die positiven Veränderungen im Lauf der Jahrhunderte aufzeigen, die fast ausschließlich von zunächst völlig unbekannten Menschen initiiert wurden. Menschen, die meist erst hundert oder zweihundert Jahre später im heutigen Sinne als Aktivistinnen und Aktivisten gewürdigt werden. Und alle Protagonisten dieser Veränderungen blieben ihren eigenen Prinzipien treu und hatten mit ihren Aktionen auf lange Sicht beeindruckende Erfolge, die das Weltgeschehen beeinflussten.

Benjamin Lay (1682-1759) wurde zum frühen glühenden Abolitionisten, zum Gegner der Sklaverei. Sein Prinzip war die Empathie, mit der er seine Glaubensgemeinschaft dazu brachte, das Schicksal der Sklaven zu verstehen. Walt Tyler (1341-1381) widersetzte sich dem König Richard II., als dieser eine Kopfsteuer einführte, um den Krieg gegen England zu finanzieren. Die Art und Weise, wie er große Reichtümer verurteilte, hatte eine Fernwirkung. Catharina Linck (1687-1721) wollte die Geschlechterrollen neu definieren oder Mother Jones (1837–1930) klagte die Kinderarbeit an. Das sind nur einige der Protagonisten, die Loel Zwecker in seinem Band »Die Macht der Machtlosen« Revue passieren lässt. »Eine Geschichte von unten«, so der Untertitel, will er verfassen und das ist ihm gelungen, weil er den Standpunkt und die Perspektive ändert. Er gibt denen eine Stimme, die von den Geschichtsschreibern übersehen oder übergangen wurden.

Benjamin Lays Auftritt im September 1738 im Veranstaltungssaal einer Kirchengemeinde in Pennsylvania war etwas Neues, setzte etwas in Gang, in dem er zuvor eine mit Kermesbeerensaft präparierte Blase in eine Bibel hineingeschmuggelt hatte, auf die er nun mit einem Schwert einschlug und gleichzeitig lautstark die Sklaverei anprangerte. Er zielte auf Empathie als Teil oder gar Motivation politischen Handelns. (vgl. S. 12 f). Später nannte man sie Abolitionisten bis sie schließlich den Sieg über die Sklaverei errungen hatten.

Die These von Zwecker lautet, positive gesellschaftliche Entwicklungen werden oft nicht von den Großen, den Fürsten, den CEOs oder Präsidenten eingeleitet, sondern von denen da unten, den einfachen Leuten, so wie die Frau, die sich eine gelbe Weste umband, um u. a. an die Vergessenen in der Provinz zu erinnern und so entwickelte sich die Bewegung der Gilets jaunes. 

Zwecker legt uns ein ganzes Geschichtsbuch vor, von den Aufständen der Bauern im Mittelalter, die schon ganz modern ökonomische Gleichberechtigung forderten, über die Kämpfe gegen die Sklaverei bis zu den Bewegungen der Neuzeit, die Gleichberechtigung für Frauen und Arbeiter forderten. Manche Ursprünge dieser Initiativen ähneln sich, denn so wie Einzelpersonen auf die Idee kamen, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, eigene Vorteile aufgaben, erzielten sie einen Gewinn für alle. Hier wird auch das Rezept erkennbar, das Zwecker seinen Lesern vorschlägt. Entökonomisierung lautet das Stichwort, denn wenn Profitstreben nicht im Vordergrund steht, sondern der Gewinn, der fühlbar wird, wenn Benachteiligte Hilfe erhalten, kommt es zu einem „Abgabegewinn“ (vgl. S. 339), der im Ergebnis höher ausfallen kann als jeder Profit, so auch in den Phalanstères von Charles Fourier (1772-1836). Solche Einrichtungen werden heute in Abhandlungen über Utopien dargestellt, waren sie doch oft Initiativen von Einzelpersonen und es gab schon Vorläufer Mitte des 17. Jahrhunderts: „Sie erfanden nichts weniger als einen unternehmerischen, auf Privatinitiative aufbauenden Sozialismus und den gewaltfreien Aktivismus“ (S. 15)

Diese Bewegungen der Machtlosen begannen schon im Mittelalter, eine „Renaissance der Unterprivilegierten“ (S. 17) nennt Zwecker sie und erinnert an ihr Erfolgsrezept: „Empathien“: Keine Theorien, keine Hierarchien, keine ausladenden Institutionen, sie waren machtlos, man könnte sogar hinzufügen, unpolitisch, eben daher machtlos, aber sie nahmen sich doch Macht auf ihre Weise, indem sie auf Prinzipien beharrten, die auf Einfluss und Breitenwirkung beruhten. Ihre Aktionen waren in gewissem Sinne mitreißend, weil sie Haltungen und Muster entwickelten, die spätere Akteure, Machtlose, aufgriffen und zu ihrer Sache machen konnten. Ihr Erfolgsrezept war die Freiheit, die sie sich nahmen, um mit ihr Handlungsspielräume auszuloten und sie zu realisieren.

Der so beschriebene Ansatz des Buches »Die Macht der Machtlosen« korrespondiert bestens mit seiner Gliederung: I. Die Macht des Verzichts, II. Die Kraft des Zusammenhalts, III. Empowerment durch Verwandlung, IV. Eine umfassend wirksame Umverteilung, V. Die Realpolitik der Spinner und VI. Die einfachen Leute und die Institutionen. Im Grunde genommen beschreibt Zwecker alle sozial oder wirtschaftlich geprägten Aktionen von Bürgern, das Engagement von NGOs oder auch gar die Initiativen von Stiftungen, die sowie sie nicht gewinnorientiert sind, umso mehr Ressourcen haben, um für das Gemeinwohl positiv wirken zu können.

Zu allen bisher genannten Kennzeichen der Graswurzelbewegungen kommt noch die bemerkenswerte Dauer, mit der Aktivitäten Einzelner über Generationen wirkten, ohne bei dieser langen Dauer die ihr inhärente Kraft zu verlieren, ja sie eher noch zu steigern wie bei den Abolitionisten. Auch wenn Aufstände, wie der vom 30. Mai 1381 gegen die poll tax, niedergeschlagen wurde, war der Mut der Rebellen nicht mehr aus den Chroniken und Geschichtsbüchern zu tilgen.  Die Botschaft: „Ja, wir können ein ungerechtes System zum Wanken bringen,“ (S. 192) wurde in den folgenden Jahrhunderten zur Antwort auf kulturelle und ökonomische Ungleichheit, die wenn sie das Selbstwertgefühl der Menschen zu sehr beeinträchtigen, fortan zur Revolte geführt haben. (vgl. dazu S. 194)

Zwecker füllt seinen Werkzeugkasten für die Analyse mit kreativen Wortschöpfungen, die aber tatsächlich im Rahmen seines Ansatzes bestens funktionieren: Man sollte den „Trägheitssatz der intellektuellen Eleganz“ (S. 273) kennen. Es passiert nichts, wenn von außen keine nennenswerte Störung kommt.

Heiner Wittmann

Die Macht der Machtlosen

Eine Geschichte von unten

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Beteiligte Personen

© Tobias Lehmann

Loel Zwecker

Loel Zwecker, geboren 1968, ist Autor und freier Redakteur. Er promovierte über das Thema Kunst und Politik und war Dozent für Kunstgeschichte an der Ludw...

Loel Zwecker, geboren 1968, ist Autor und freier Redakteur. Er promovierte über das Thema Kunst und Politik und war Dozent für Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er schrieb für verschiedene Tageszeitungen (SZ, FR, NZZ, Le Monde) und verfasste mehrere Bücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt veröffentlichte er den Bestseller Was bisher geschah. Eine kleine Weltgeschichte (2010) und Vom Anfang bis heute. Eine kleine Geschi...

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