David Graeber (1962-2020) und David Wengrow, haben zehn Jahre lang zusammen ein Buch geschrieben, man könnte auch sagen, sie haben gemeinsam darum im Dialog gerungen. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit liegt nun in der Übersetzung von Helmut Dierlamm, Henning Dedekind und Andreas Thomsen auf Deutsch vor.
Es ist ein bemerkenswertes Buch, »Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit«, das uns eine vollständig neue Betrachtung der Anfänge der Menschheit vorlegt Dabei geht es keinesfalls nur um Fakten, die von beiden Autoren neu bewertet werden, sondern auch, und das ist nicht zu hoch gegriffen, um eine geschichtswissenschaftliche Propädeutik, mit der beide Autoren die Grundsätze und Methoden untersuchen, mit denen bisher die Ursprünge des Menschen analysiert und interpretiert wurden. D. h. sie legen mit ihrem Buch eine Anleitung vor, wie Quellen zu lesen und zu interpretieren sind. Kein Wunder, dass David Graeber und David Wengrow sich gegen viele traditionelle Aussage und auch Mythen der Historiker wenden, zumal sie gängige Muster hinsichtlich des Ursprungs der Menschheit referieren, die sich zu Lehrmeinungen entwickelt haben und kaum je hinterfragt werden.
Schon in den ersten Kapitel wird deutlich, dass beide Autoren heute weit zurückreichende Kenntnisse in der Geschichte als Märchen abqualifizieren, da oft in Geschichtserzählungen eine Entwicklung des Menschen von Nomaden über die Sesshaftwerdung, über Bauern und Landwirtschaft, Kontinuitäten Verläufe dargestellt werden, die es so überhaupt nicht gegeben hat.
Zugegeben. 560 Seiten beanspruchen die Konzentration des Lesers, aber es winkt zunächst einmal der tiefe Einblick in die so erfolgreiche Zusammenarbeit der beiden Autoren David Graeber und David Wengrow, die in ihrem Vorwort zu Recht betonen, „keinen Flickenteppich, sondern eine echte Synthese“ präsentieren zu wollen. Ihre Fragen berühren auch Philosophie und Moral, wenn sie nach den Gründen für den „miserablen Zustand“ (S. 13) fragen. Ist die Menschheit irgendwo falsch abgebogen? Und so kommen sie bald darauf, dass die Geschichten vom kontinuierlichen Fortschritt der Menschheit nicht stimmen können.
Es ist der geringschätzende Blick auf alte Völker, heute spricht man auch von indigenen Völkern, der eine Antwort liefern kann. Wann entstand die Ungleichheit? In diesem Zusammenhang blicken die Autoren auf Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau und versuchen nachzuweisen, dass deren Geschichtserzählungen wie bei Rousseau vom guten Wilden, nichts mehr als nur Denkmodelle sind, mit denen historische Veränderungen beschrieben werden, allerdings deren wahre Umstände wegen fehlender Quellen gar nicht aufzudecken.
David Graeber und David Wengrow haben Quellen und Augenzeugenberichte wie z. B. das des indianischen Staatsmann Kondiaronk (1649-1701), S. 17 ff., und S. 64 ff. neu gelesen und so gehen sie auch im Folgenden vor. Sie untersuchen nacheinander viele alte Ur- oder indigene Völker und decken immer wieder das gleiche Muster auf: die Interpreten der Quellen arbeiten alle meist mit Vorurteilen und verstellen sich selbst den Blick die Besonderheiten dieser Völker und ihre Intelligenz tragfähige Lösungen für ihre Probleme zu finden. Das sind nicht nur wirtschaftliche oder technische Lösungen, dass sind auch alle so unterschiedlichen Ansätze, funktionierende Gemeinwesen zu organisieren.
Folgen Historiker aber den Ansätzen von Hobbes und Rousseau wird ein Wunschdenken in die Geschichte projiziert, das mit der Realität unserer Ursprünge nichts zu tun hat. Das gleiche gilt auch für die Überlegungen von Adam Smith, dessen Modell eines primitiven Handels (vgl. S. 36) einer Überprüfung gar nicht standhält. Vielleicht handelte es ich bei ersten Tauschaktionen auch um ganz anderen Formen, als das was wir mit Handel bezeichnen. Und dann kommt auch noch hinzu, dass der Handel sich keinesfalls nur auf lokale Ebenen in kleinen Gemeinschaften beschränkte, sondern gar international, also über weite Entfernungen hinweg stattfand.
Liest man heute die Berichte von Pater Pierre Biard (1567-1622) Über die Mi’kmaq in Nova Sotia (Kanada) oder von Bruder Sagard über das Volk der Wendat (S. 53 ff.) mit seinen 71 Bänden über seine Missionsarbeit fällt auf, dass dies Völker einen ganz anderen, gar umfassenderen und positiveren Freiheitsbegriff hatten wie ihre europäischen Kolonisatoren. Von ihrer Art willkürliche Gewalt abzulehnen, hätten die Europäer auch etwas lernen können.
Besonders beeindruckend ist in diesem Buch die Menge an Primär- und Sekundärliteratur zur Geschichte der frühesten Menschen, die beide Autoren geprüft und eingeordnet haben, sowohl in der Historiographie wie auch in der Literatur.
Groß ist die Versuchung nachzuschauen: Die > Lettres d’une Péruvienne von Madame de Graffigny (1695-1758) sind 1747 erscheinen. Schon im Avertissement steht ein Hinweis auf Greabers und Wengrows Ansatz…
Greaber und Wengrow stellen nicht die Geschichte auf den Kopf, aber sie bestehen darauf, dass die Idee vom „Ursprung“ der sozialen Ungleichheit auch heute noch immer wiederholt wird und dadurch aber nicht richtiger werde: S. 103 ff. Jetzt kommt die Archäologie mit ihren historischen Fundstätten dazu, deren Ergebnisse von Graeber und Wengrow anders als herkömmlich bewertet werden: S. 105 ff. Tatsächlich müsse nicht nach den Ursprüngen der sozialen Ungleichheit gefragt werden, sondern danach, warum die Menschheit stecken geblieben ist.“ Auch hier zeigen David Graeber und David Wengrow wie sehr es in der Historiographie darauf ankommt, aus welcher Optik die Fragen formuliert werden. Und wie enthielt es sich mit der Entstehung des Privateigentums und dem Beginn der Landwirtschaft? Und es muss auch die Frage gestellt werden, was denn eigentlich in „egalitären“ Gesellschaften wirklich gleich sei? (vgl. S. 146)
Ein Beispiel für die kritische Betrachtung der Sekundärliterautr ist die Lektüre Graebers und Wengrows des Artikels „Die ursprüngliche Wohlstandsgesellschaft“ (1968, wieder publiziert in Les Temps Modernes (S. 157), an dem Greaber und Wnegrow kein gutes Wort lassen: „…was passieren kann, wenn extrem scharsinnige Menschenüber Urgeschichte schrieben , ohne über tragfähige Zeugnisse zu verfügen“. Zunächst stimmen beide Autoren ihm zu, aber seine Theorie des unbeschwerten Jäger und Sammler stimme nicht…: „Sahlins‘ Artikel ist ein brillantes moralisches Lehrstück“ (S. 160), aber eine „Überflussgesellschaft“ habe so nicht gegeben.
Mehrere Ansätze durchziehen das Buch von Greaber und Wengrow. Zum einen die genau Lektüre der Geschichtsschreibung der Urgeschichte und eine faszinierende Kenntnis der heutigen Literatur in soziologischer und historischer Hinsicht zu diesem Thema. Erstaunlicherweise kommen auch verschiedene Themen und Grundsätze mit dazu, die die Argumentation der beiden Autoren bereichern: „Da es in diesem Buch hauptsächlich um Freiheit geht…“, Sätze wie diese lassen aufhorchen und schärfen das Verständnis ihrer Leser, denn die Autoren vermuten, „Menschen hätten ein größeres kollektives Mitspracherecht an ihrem Schicksal, als wir gewöhnlich annehmen.“ (S. 230, vgl. auch S, 48 f.) Bemerkungen wie diese verleihen dem Naturrecht einen ganz neuen, also für uns ungewohnten Klang.
David Graeber (1961–2020) war Professor für Anthropologie an der London School of Economics und Autor der Weltbestseller «Schulden», «Bul...
David Graeber (1961–2020) war Professor für Anthropologie an der London School of Economics und Autor der Weltbestseller «Schulden», «Bullshit Jobs» und «Bürokratie» und Vordenker von «Occupy Wall Street». Völlig überraschend starb David Graeber am 2. September 2020 in Venedig. Sein letztes großes Werk «Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit» erschien postum im Frühjahr 2022 bei Klett-Cotta.
David Wengrow, geboren am 25. Juli 1972, studierte Archäologie und Anthropologie in Oxford und unterrichtet am Lehrstuhl für Vergleichend...
David Wengrow, geboren am 25. Juli 1972, studierte Archäologie und Anthropologie in Oxford und unterrichtet am Lehrstuhl für Vergleichende Archäologie an der Universität London. Er leitete Forschungen in Afrika und dem Mittleren Osten, ist einer der führenden Vertreter der »World Archaeology« und immer wieder zu Forschungsaufenthalten in Deutschland, u.a. an der Universität Freiburg. 2023 hat er die Albertus-Magnus-Professur in Köln inne.
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