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Lesebericht und Nachgefragt: Niclas Seydack, Geile Zeit

Verfasst von Heiner Wittmann
24.9.2024

Nicht über sich schreibt Niclas Seydack, sondern wie der Untertitel von »Geile Zeit« lautet, er verfasst gleich eine »Autobiographie einer ganzen Generation«. Seydack erzählt, wie das Leben damals in dem kleinen Dorf unweit der Ostsee so war. Er spielte mit seinen Freunden: „Kann Malte rauskommen?“ Und genauso wie wir damals in Köln in einem Büdchen die Verpflegung für unsere Ausflüge kauften, bei uns waren es Gummibärchen, die wir dann auf den Fahrradtouren durch den Kölner Grüngürtel gerecht verteilten, waren es bei Niclas saure Schnüre. Zu Hause wächst er schon mit einem PC und einem Gamepad auf. 

So einfach war der Übergang auf die weiterführende Schule nicht, weil sein Volksschullehrer ihm den Wechsel auf das Gymnasium nicht zugetraut hatte, die Eltern sahen das anders und überstimmten Herrn Holm-Reichert. Das Gymnasium begann mit einer Schweigeminute für die Opfer von 9/11. Dann das Seebeben im Indischen Ozean, die Welt rückte irgendwie immer näher. Wieder eine Schweigeminute, diesmal wegen des Amoklaufes in Erfurt: Künftig würde vor so etwas mit „Frau Schwarz bitte ins Sekretariat …“ gewarnt werden.

Lesebericht und Nachgefragt: Niclas Seydack, Geile Zeit

Nachgefragt bei Niclas Seydack

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Eine erste Karriere als Klassenclown scheiterte schon im ersten Anlauf. Der zweite Versuch war kaum besser, ein bisschen unanständig und eigentlich nur für Ärger geeignet. Ein erster Schülerjob führt Niclas in eine Bäckerei, er probt seinen Einsatz gegen Rassismus und bekommt prompt Ärger.

Auf den Familienkassetten entdeckte er bald die einschlägigen Filme, mit denen er zu Hause Vorführungen für seine Freunde veranstaltete. Draußen durfte nicht allzu viel Lärm gemacht werden, die Kurgäste in Bad Schwartau brauchten Ruhe. Im Unterricht sollte HMTL gelernt werden, aber Blobby Volley wurde unbemerkt gespielt. Überhaupt gewinnt man bei Niclas‘ Rückschau den Eindruck, dass überall gelernt wurde, sich ständig neue Horizonte auftaten, dauernd etwas Neues entdeckt wurde, immer wieder was passierte, nur nicht in der Schule. Das stellt die Institution Schule kaum in Frage, denn Niclas scheint über die Kritik an seiner Schulzeit schon schnell und längst hinweg zu sein.

Seine Freunde flogen nach Rom, Athen oder London, Niclas ging zum Campingplatz in Scheeßel. Mehr oder weniger gelungene Mutproben aller Art vertrieben die Zeit. In der Oberstufe stand die Sorge um den Abischnitt immer im Vordergrund. Dann die Abschlussfahrt nach Italien und Herr Krüger erzählte ihnen etwas über die Renaissance, was seine Zöglinge arschlangweilig fanden, und er revanchierte sich bei Niclas: „… aus Ihnen, Niclas, wird sowieso nichts mehr.“ Schulzeit verpfuscht? Kein lobendes Wort über die Schule …? Schwingt da auch Enttäuschung mit, dass so wenig davon übrigblieb? Desillusionen, Missbehagen, Bedauern über verpasste Chancen? Die Rückblicke von Niclas entsprechen manchmal gar nicht so recht dem Titel des Buches. Hätte man was anders machen können?

Zivildienst bei einer katholischen Hilfsorganisation. Und dann passierte wirklich etwas. Lena (Meyer-Landrut) gewann 2010 mit ihrem Hit "Satellite" den Eurovision Song Contest in Oslo.

Nach dreizehn Schuljahren gings mit 21 in die Uni nach Jena. Regelstudienzeit, Bologna-Prozess, Credit Points, in einem Absatz präzisiert Niclas seine ganz berechtigte Kritik an der deutschen Uni: vgl. S. 99. Wieder geht es um verpasste Chancen, die er aber auch nicht zu verantworten hatte. Studieren zwischen den Partys, improvisierte Raves am Sonntagmittag. Immer näher kommt die Welt. Massenpanik auf der Loveparade in Duisburg, Amoklauf auf der norwegischen Insel Utøya, der Copilot des Germanwing-Flugs 9525, der 150 Menschen mit in den Tod riss.

Dann das Praktikum bei der Stadtredaktion in Dresden. Wie wird man erwachsen? Wenn die Kindheit endgültig zu Erinnerung wird? (S. 129) Dann kam die Pandemie und die endlosen Zoom-Sitzungen. Eigentlich wollte er Journalist werden, stattdessen gab es jetzt Kurzarbeit im Homeoffice.

Die Krisen der Welt. Aber da war ja Kanzlerin Merkel, die aufpasste, dass sie nicht zu nahekamen. Niclas rechnet ihr hoch an, dass sie seiner Mutter so ähnelte und erinnerte sich an ihr „Wir schaffen das.“ Sie fand das „alternativlos“ und Niclas glaubte im Nachhinein, dass sie dadurch die neue „Fascho-Partei“ förderte.

Um die 30 ist er jetzt und kriegt den ersten Rentenbescheid; hat eine 40-Stunden-Woche. „Eigentlich ist es die Aufgabe und das Privileg junger Menschen, Neues zu erfinden, das die Alten nervt.“ (S. 203)

»Geile Zeit« ist der Bericht aus einer Zeit, in der alles ausprobiert wurde. Zugleich aber auch eine gewisse Nachdenklichkeit, war man doch in der Jugend eigentlich auf nichts vorbereitet, was da später kommen würde.

Heiner Wittmann

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Geile Zeit

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Beteiligte Personen

© Tigran Hovhannisyan Photography, Berlin

Niclas Seydack

Niclas Seydack, geboren 1990 an der Ostsee, arbeitet als freier Reporter in München, vor allem für Die Zeit, den Spiegel und das Magazin...

Niclas Seydack, geboren 1990 an der Ostsee, arbeitet als freier Reporter in München, vor allem für Die Zeit, den Spiegel und das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Er ist Mitautor des Bestsellers Corona – Geschichte eines angekündigten Sterbens (2020) und Teil des Rechercheteams, mit dem Dirk Rossmann seine Klima-Thriller schreibt. Er lebt in München.

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