Per Leo hat mit »Tränen ohne Trauer. Nach der Erinnerungskultur« ein sehr persönliches Buch geschrieben, das uns aber alle angeht.
Ist der Untertitel „Nach der Erinnerungskultur“ erklärungsbedürftig? Hatten wir davon zu viel in den letzten Jahren? > Bibliographie Erinnerungskultur – www.france-blog.info. Ein Ende von ihr will Per Leo kaum ausrufen, aber sie zu Recht neu gewichten.
Geschichte lernen, so würde ich es meinen Schülern erklären, ist auch eine ständige Selbstvergewisserung, wo kommen wir her? Mit welchem Gepäck? Und welche Wege öffnen sich vor uns? Und gleichzeitig bedeutet Geschichte auch, frühere Bewertungen in das Licht neuerer Erkenntnisse zu stellen. Es geht auch um die Bildung des Geschichtsbewusstseins, wozu brauchen wir das? Wie entsteht es? Man kann diese Fragen gut an dem so großen Holocaust-Denkmal in Berlin unweit vom Brandenburger Tor deuten. Hat die Größe etwas mit der Last dieser entsetzlichen Verbrechen zu tun? Wird da gar etwas wie ein „Entlastung“ erkennbar? Hier wird dem millionenfachen Mord an den Juden gedacht. Auf dem Weg vom Bundestag zum Brandenburger Tor kommt man an der Gedenkstätte für die Ermordung der über 50.000 Sinti und Roman. Die Schlichtheit des Wasserrondells inmitten der Wiese hat ich beim ersten Besuch sehr berührt und immer auf dem Weg vom Bahnhof zur Französischen Botschaft verweile ich dort. Ein fester Programmpunkt. Und dann gehen wir zur > Neuen Wache an der Straße Unter den Linden neben dem Geschichtsmuseum. Der Vergleich aller drei Gedenkstätten ist sehr lehrreich.
Wie sind alle drei Gedenkstätten entstanden? Was sagen sie heute über unsere Erinnerungskultur aus? Haben Sie dazu beigetragen, unser Geschichtsbewusstsein zu erweitern? Der Text auf der 4. Umschlagseite präzisiert das Anliegen von Per Leo. Unsere Vergangenheit sei „unaufgeräumt“ und der Blick nach geht nach „vorne in ein unvollkommenes Einwanderungsland“.
Wie gesagt, Geschichte hat auch immer etwas mit einer Standortbestimmung zu tun, und Per Leo hat hier eine wohldurchdachte Reflexion über die deutsche Vergangenheit, den Holocaust, die grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten und den Stellenwert dieser historischen Erinnerung zunächst getrennt in der DDR und in der BRD, dann im wiedervereinten Deutschland vorgelegt.
Der erste Satz des ersten Kapitels schlägt den Ton dieses Buches an „Vom Nationalsozialismus wird in Deutschland oft maßlos, selten genau gesprochen.“ (S. 11) Damit meint er wohl das, was manche den öffentlichen Diskurs nennen. Mein Bücherregal zum Dritten Reich kann nicht gemeint sein. Und die Geschichte der Erinnerung an das Dritte Reich nach 1945 bis heute gibt ihm Recht und zeigt zugleich auch, wie sehr Geschichtsbetrachtung auch immer standortgebunden und zuweilen auch mit den Vorstellungen und Wünschen der Interpreten verknüpft ist.
Per Leo beschäftigt sich ausführlich mit der Beurteilung des Holocaust als singuläres Verbrechen (vgl. S. 36-57), das in seiner abscheulichen Dimension keinen Vergleich mit anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit duldet, will der Redner nicht sofort des Versuchs der Relativierung bezichtigt werden. In diesem Zusammenhang nennt Per Leo den Historikerstreit und diskutiert die Einordnung, die heute zukommt. Zwischendurch erläutert der Autor immer wieder methodische Grundlagen seiner Analyse (vgl. S. 39 et passim) mit theoretischen Reflexionen.
Die Abschnitte „Im Schatten der Tat“ und „Das Licht der Opfer“ rekapitulieren die Aufarbeitung des NS-Verbrechen in den Jahren nach dem Krieg bis zu den 68ern und die Geschichte der Erinnerung, wie Juden heute darüber nicht nur in Deutschland sprechen, sondern auch angesichts der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem.
Kapitel wie diese zeigen, dass dieses Buch auch für Seminare oder gar den LK Geschichte geeignet ist. Schüler oder Studenten fänden in jedem Kapitel reichlich Stoff für Referate und würden lernen, unsere Erinnerungskultur neu einzuordnen.
Kann man sich von dieser Last der Erinnerung befreien? Und dann folgt ein ganz wichtiges Kapitel „Aufklärung West“ mit einer ganzen Bibliographie von Büchern, die über die Vergangenheit berichten; deren neue Einordnung trägt dazu bei, unseren Blick auf die Erinnerungskultur zu schärfen.
Das jüdische Leben in Deutschland heute mit seiner erneuerte Pluralität, so Leo zeige wie weit wir mittlerweile vom Nationalsozialismus entfernt seien, heißt es im Abschnitt „Blind für die Morgenröte“ (vgl. S. 127). Dazu kommt dass die heutige Bundesrepublik irgendwie aus dem Schatten des Nationalsozialismus herausgetreten sei, ein multiethnisches Einwanderungsland geworden sei und ein Land sei, zudem seit 30 Jahren die DDR gehöre. Es sind auch solche Veränderungen, die Per Leo veranlassen, nach dem Stellenwert der Erinnerungskultur zu fragen.
Oben habe ich angedeutet, das Geschichte auch den Weg deuten könne. Und Leo macht dies nicht als Historiker sondern als Schriftsteller, ein Beruf, „der zumindest in Deutschland die Lizenz zur nationalen Kathederrede enthält. Also, my fellow germans, hört gut zu, was ich uns zu sagen habe.“ (S. 159) Und er erklärt uns einiges sehr Wissenswertes zum Osten und Westen und zur Wiedervereinigung. Vielleicht ist da einiges schiefgelaufen und die AfD war der Nutznießer.
Schreibt man über deutsche Geschichte, das Dritte Reich und dessen Verbrechen und kommt man auf heute zu sprechen, dann kann es gar nicht ausbleiben, dass man an die deutsche Verpflichtung gegenüber Israel erinnert, das Einstehen dafür wird von deutschen Politikern besonders in Israel immer wieder bekräftigt: Der komplizierte Nahostkonflit gehört zur komplizierten Realität des Einwanderungslandes Deutschland…“ (S. 199)
Leos Fazit: „Das Erbe des Nationalsozialismus verpflichtet Deutschland auf ein ethisches Minimum , dessen Pflege auch zukünftig Staatsaufgabe bleiben sollte.“(S.207). Man könne ihr nur durch „NACHLEBEN“ (Aby warburg) beikommen.
Per Leo, geb. 1972, wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Debütroman »Flut und Boden« stand auf de...
Per Leo, geb. 1972, wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Debütroman »Flut und Boden« stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Der von ihm mitverfassten Leitfaden »Mit Rechten reden« wurde zum vieldiskutierten Bestseller. Leo lebt als freier Autor und Schatullenproduzent in Berlin.
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