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Lesebericht: Stefan Bollmann, Zeit der Verwandlung. München 1900 und die Neuerfindung des Lebens

Verfasst von Heiner Wittmann
4.1.2024

„München 1900: Laboratorium der Moderne“ erzählt, wie es auf dem Klappentext von Stefan Bollmanns Roman »Zeit der Verwandlung« heißt, der den Untertitel »München 1900 und die Neuerfindung des Lebens« trägt, die fundamentalen Veränderungen der Gesellschaft in der bayrischen Metropole unter dem Einfluss vieler Schriftsteller:innen, Dichter:innen und vieler Künstler:innen der bildenden Kunst. Es ist die Moderne, die sich mit einem Mal Bahn bricht, eben das Leben nicht nur verändert, sondern es durch die Kunst neu erfindet.

Zu den Hauptprotagonisten dieses Laboratoriums ungefähr zwischen 1886 und 1914 gehören Franziska zu Reventlow und Frank Wedekind, Hedwig Pringsheim und Thomas Mann, Lou Andreas Salomé und Rainer Maria Rilke, Marianne von Werefkin und Wassily Kandinsky. Sie betreiben Kunst, entwickeln neue Kunststile, gründen Kunstzeitschriften, beäugen sich gegenseitig, entwickeln die Frauenemanzipation, begründen den Jugendstil, üben sich in Secession, die in den Blauen Reiter und dann auch gleich noch in die abstrakte Kunst übergeht.

Lesebericht: Stefan Bollmann, Zeit der Verwandlung. München 1900 und die Neuerfindung des Lebens

Kabaretts und Satirestücke heizen das ganze Treiben im wahrsten Sinne des Wortes noch weiter an. Die Psychotherapie hat ihre erste Blütezeit, mit und ohne Kabinett wird die Psyche der Künstler:innen beobachtet. Freie Liebe wird von Franziska von Reventlow auch für die Frau entdeckt. Es gibt erste Anzeichen, dass die Geschlechter ineinander übergehen. „Fluide Geschlechter“ steht im Klappentext, der auf den modernen Tanz verweist, der Geschlechteridentitäten zwar nicht aufgibt, aber dann mit dem Tanz eines Alexander Sacharoff undeutlicher werden lässt.

Es ist das Verdienst von Stefan Bollmann, hier nicht einfach ein Sachbuch vorzulegen, das diese Jahre protokolliert. Er macht aus seinem Bericht einen spannenden Roman mit den Überschriften Das Ziel der Befreiten (1887-1890), Frühlingsstürme (1891-1893) und Der große Aufbruch (1894-1896). Die chronologische Form ist notwendig, da das aufeinanderfolgende Erscheinen der Hauptpersonen zugleich auch zeigt, wie sie – gefördert durch günstige Umstände – sogleich die Gesellschaft ihrer Zeit beeinflussen. Wenn es wirklich eine Art Keimzelle der neuen Lebensart geben sollte, so haben die Pringsheims mit Hedwig, die seit 1887 mit Alfred verheiratet ist und in der Sophienstraße großzügig logiert, daran ganz bestimmt einen großen Anteil. Für ihren Mann ist die Psychologie „Geisterklopferei“ und er weigert sich in die Psychologische Gesellschaft einzutreten, deren Mitglied die Freundin seiner Frau Eugenie Schauefflen bereits geworden ist. Hedwig Pringsheim gibt sich mit dieser Verweigerung nicht zufrieden und liest Die Philosophie der Mystik von Carl du Prel, dem Strategen der Psychologische Gesellschaft, mit ihren 500 Seiten: Das Ich sei mehr als das Selbstbewusstsein … wird zum Stichwort ihrer Epoche. Im Sommer 1889 wird Schrenck-Notzing du Prels Sekretär.

Aufbruch allerorten. Jeder Name, den Bollmann nennt, steht für Veränderung, unkonventionelles Verhalten und neue Ideen. München wird zum Magneten einer neuen Bohème. Liebschaften entstehen über konventionelle Grenzen hinweg und vergehen auch wieder. Neue Techniken wie die Photographie helfen dabei und Sophia Goudstikker gründet das Atelier Evra und steht auch als Initiatorin der Münchner Frauenbewegung. In kurzer Zeit wird ihr Atelier zu einem Kultort. Überhaupt Schwabing wird „ein rebellisches Ganzjahresbiotop mit ungeheurer kreativer Dichte“ (S. 56). „Und die Kraft, die alles zusammenhält, ist die Kunst – ein in erster Linie ästhetisches Verhältnis zur Welt, wie es auch Hedwig Pringsheim mit ihrem modischen Mohnblumenhut verkörpert.“ (ib.)

Immer mehr Künstler und Dichter kommen nach München. Jetzt ist es Frank Wedekind als eine extravagante Erscheinung und er entdeckt sogleich alle Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens: »Kinder und Narren« heißt das Lustspiel, das ihm dazu einfällt. Er macht eine Stippvisite nach London, kehrt aber wieder nach München zurück: Er bringt »Lulu« zu Papier, ein Stück, das sich in Paris von Lou Andreas-Salomé inspirieren ließ.

Es gibt Figuren wie Franz Lenbach, die den Kunstmarkt in München fest im Griff halten. Mit Tricks aller Art sichert er sich seine Kundschaft, von der einige wie Harry Graf Kessler sein Treiben durchschauen. Zur großen Form will Lenbach auflaufen, als Ex-Reichskanzler Otto von Bismarck auch 1892 nach München reist. Alte Erinnerungen an vergangene Zeiten werden festlich in Lenbachs Atelier beschworen, doch gut hundert Künstler sind schon weitergezogen, haben sich von der Münchener Künstlergenossenschaft getrennt und den Verein bildender Künstler Münchens gegründet. Sie setzen auf eine Fundamentalkritik am Kunstgeschäft und der Kunstszene und bald wird ein Name für ihre Bewegung gefunden, es ist die Secession. Schnell wird ein Haus für eine Ausstellung errichtet, das Interesse ist riesig, die Zuschauer, so könnte man sagen, treiben die rasante Entwicklung voran, und am ersten Tag kommen schon 4000 Besucher.

Thomas Mann werden lange Passagen gewidmet. Durch einen Zufall hat er schon als Untersekundaner ein Bild der Pringsheimkinder vor Augen …

Die drei nächsten Kapitel Neue Geschlechter (1897-1900), Wahnmoching (1901-1904) und Die Seelensucher (1905-1910) erzählen die weitere Entwicklung, wie die Künstler immer wieder neue Wege beschreiten, auch wie der Simplicissimus seine Auflage steigert, fast verdoppeln kann, obwohl oder gerade, weil er auch mit der Obrigkeit in Konflikt gerät. Dann erscheint 1899 Das dritte Geschlecht von Ernst Wolzogen, ein Roman oder „ein ‚dickes Lehrbuch der Pathologie‘“ (S. 205), dessen Thema schon von Elsa Asenijeff in ihrem Titel Aufruhr der Weiber und das dritte Geschlecht genannt wurde.

Frank Wedekind muss wegen Verlegerbeleidigung in Festungshaft und schreibt sein neues Stück Marquis von Keith, der sich in der Kunststadt München den ganz großen Erfolg sichern will, aber scheitert und das Stück schließt mit den Worten: „Das Leben ist eine Rutschbahn.“

Wahnmoching, der Begriff stammt von Franziska von Reventlow, die damit den Teil der Schwabinger Boheme meint, die die Welt von jedem moralischen Übel erlösen will. Aber Wedekind und von Reventlow finden nicht zueinander. Aber Stefan George und dann Gabriele Münter treten auf. Und im letzten Kapitel bekommt Thomas Mann seine Katja.

Diese Bemerkungen genügen, um den ungestümen Aufbruch zu beschreiben, der sich in München in den Jahren nach 1887 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vollzieht. Es sind vor allem die Künstler, die in diesem Laboratorium ständig Neues ausprobieren. Sie treffen offenkundig auch auf ein Publikum, das alles Neue immer wieder genussvoll aufnimmt.

Es sind Einzelne, die neue Kunststile entwickeln und es sind auch ganze Gruppen, die die „Neuerfindung des Lebens“ betreiben. Liebschaften aller Art, die Emanzipation der Frau, das Infragestellen der Geschlechtergrenzen zeigen, wie neue Orientierungen gesucht werden. Der Einfluss der Psychologie bietet den neuen Ärzten in diesem Laboratorium ganz neue Betätigungsfelder und eine Observation der Gesellschaft und der Künstler, die, so scheint es, immer mehr psychologischen Rat braucht, entweder, weil die Entwicklung zu schnell geht oder weil die Psychologen Fragen stellen, mit denen die Künstler noch gar nicht rechneten. In jedem Falle aber geraten alle beteiligten Künstler und Zuschauer wie in einen Sog, in einen wilden Strudel ausgelöst durch immer neue Kunstrichtungen, die noch kurz vor dem ersten Weltkrieg bis zur abstrakten Kunst führen. Dann geht auf einmal aber das Licht aus.

Heiner Wittmann

Zeit der Verwandlung

München 1900 und die Neuerfindung des Lebens

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Beteiligte Personen

Stefan Bollmann

Stefan Bollmann, geboren 1958, Bestsellerautor einer gegen den Strich gebürsteten Goethe-Biographie sowie weiterer Bücher zur Geschichte des Lesens und de...

Stefan Bollmann, geboren 1958, Bestsellerautor einer gegen den Strich gebürsteten Goethe-Biographie sowie weiterer Bücher zur Geschichte des Lesens und der Alternativkulturen, promovierte nach einem Studium der Literatur, Geschichte und Philosophie über Thomas Mann. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt und verkauften sich weltweit annähernd eine halbe Million Mal.

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