7.8.2002. Das erste Kapitel beginnt mit einem Ausflug in einem Boot auf einem See. Die Erzählerin und Honksu. Kurze Sätze, viele Absätze, fast so, als ob aus dem Gesagten Aphorismen werden sollen. Eine Insel kommt in Sicht. Der Verleger ruft an und will wissen, wie der Stand der Dinge sei: Ja, das Buch ist weg, bestätigt ihm die Erzählerin. Sie hat aus Versehen zwei Tasten gedrückt, Ctrl und A. Um die Textmarkierung zu entfernen, drückt sie Del. Dann verschwindet die Markierung – aber auch der gesamte Text. Und wenn es keine Sicherheitskopie gibt, ist der Text verschluckt. Weg. »Das rote Buch der Abschiede« – gelöscht von der Erzählerin.
Havva besucht die Erzählerin im Krankenhaus. Die Entbindung steht kurz bevor. Sie erinnert sich an 1970, „die Zeit vor Havva […], vor dem Mädchen mit den Clownaugen, vor dem grünen Zimmer in der Straße Manseeikatu, vor dem Studententheater.“ (S. 31)
Bei und nach der Lektüre von Pirkko Saisio, »Das rote Buch der Abschiede« stellt sich die Frage nach der Form und nach dem Genre dieses Buches. Ganz zweifellos ein Roman, aber auch eine kluge Sammlung von Aphorismen, mit denen punktuell, aber dadurch nicht weniger präzise, Erinnerungen aufgenommen und im Rückblick neu eingeordnet, also verarbeitet werden. Wie war das in jener Nacht? Clownauge bleibt einfach mal über Nacht? Man muss das Kapitel nochmal lesen, um Verborgenes zu entdecken. Die Autorin zwingt ihre Lesenden nachzulesen. Zu Hause ist sie nicht gut gelitten, die Mutter spürt, wie sich die Tochter allen Konventionen entziehen will, dann fällt der befreiende Satz: »Es gibt auch Frauen, die Frauen lieben« sagt eine Freundin. Ist das ein Befreiungsschlag?
Der Tod der Mutter. Und die Erzählerin erlebt die Ereignisse wie durch einen Schleier hindurch, aus Distanz. Das Kind ist da. Kaiserschnitt. Sozusagen in letzter Minute.
Sie bekommt Kontakt in die Untergrundbars von Helsinki und kann sich nur schwer in dieses Milieu hineinfinden.
„Macht wird einem nicht gegeben. Macht nimmt man sich,“ steht unvermittelt nicht nur einmal auf S. 79 und schlägt den Ton für den Fortgang der Geschichte an. Ihre Kommilitonen wollen für die Rechte von Schwulen und Lesben kämpfen, ein Kampf, der sie nicht interessiert: „Sie will eine Kriminelle bleiben.“ (S. 81) Sozusagen ihre Identität behalten. Gedankensprünge, Impressionen, Ideensplitter, Nachdenkliches … dann gibt sie Clownauge nach und versucht es mit dem Studententheater, das sie aufnimmt (S. 85) und die Erzählerin wechselt vom sie zum ich. Akzeptiert die neue Identität, die wohl zur echten Befreiung für sie wird.
Noch denkt sie an ihre Herkunft, das Arbeitermilieu, der Blick auf die Revolution. Und hängt bei ihrem neuen Job den alten Ideen nach. Sinniert darüber, was sie alles aufgegeben hat. Ihre Abschiede. Aber das Neue lockt: „Auftreten ist wie ein Wunder.“ Sieben Auftritte später sind die Erinnerungen überwunden. Sie versucht das Beste aus der neuen Situation zu machen: „Theater darf und wird nie bloßer Selbstzweck sein. Theater ist ein Mittel zur Erschaffung einer menschenwürdigen, lebenswerten Welt im Sinne der Diktatur des Proletariats.“ (S. 99)
Es kommt zum Streit über ein Stück. Die Leitungsgruppe fliegt auseinander.
Die Erinnerungen an Havva sind ein ständiges Suchen: „Die Erinnerung ist keine gute Fee.“ (S: 187) Havva erzählt ihr nächtelang von ihren Erlebnissen. Eines Tages kommt Havva abends nicht nach Hause. Aber sie kommt wieder: „Zu zweit zu Hause zu sein war heikel.“ (S. 293) Sieben Jahre.
Pirkko Saisio hat eine ganz eigenartige Weise, die Erinnerung an vergangene Zeiten wieder aufleben zu lassen, entwickelt: Versatzstücke mit wörtlicher Rede verbinden, die der Vergangenheit eine Art Gegenwart verleihen. Die Vor- und Rückblenden konstruieren die Erzählung und vermitteln Erklärungen, mit denen manche Beweggründe plausibel werden. Das Theater ist für sie wie für Jean Genet die Geschichte einer Befreiung, eines Aufbruchs zu neuen Horizonten.
Heiner Wittmann