Die Generation, die zwischen 1905 und 1930 geboren wurde, erlebt nach 1944 in Paris einen fulminanten Aufbruch. Der Krieg war vorbei, nach der Befreiung im August 1944 waren die deutschen Besatzer abgezogen, das intellektuelle Leben bekam wieder die Oberhand. Allen voran Jean-Paul Sartre (1905-1980) (nicht nur) mit den Temps modernes und Albert Camus (1913-1960) setzten die Themen und begründeten den Existentialismus . Alles war hochpolitisch, man suchte nach einem neuen Gesellschaftsmodell am besten zwischen den beiden großen Lagern, dem Kommunismus und dem Kapitalismus, einen Dritten Weg. Mit Simone de Beauvoir (1908-1986) und etwas später Brigitte Bardot (*1934) begann eine neue Phase des Feminismus, mit dem sie den Frauen eine Befreiung aus allen herkömmlichen Bindungen vorlebten.
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Agnès Poirier hat mit ihrem Buch »An den Ufern der Seine«, übersetzt von Monika Köpfer, eine spannende Erzählung über Die magischen Jahre von Paris 1940–50 vorgelegt. Nach dem Abzug der deutschen Besatzer im August 1944 blühte das Geistesleben in Paris wieder auf. Vorbei war der Terror der Nazis, das ständige Leben in Angst, die Rationierungen und Entbehrungen. Die Befreiung im August 1944 war ein Freudenfest, auch wenn es von vielen Toten überschattet wurde, die deutschen Scharfschützen noch zum Opfer fielen.
Die Wiedergeburt des intellektuellen Lebens im 5. rund um die Sorbonne und 6. Arrondissement rund um die Kirche von Saint-Germain-des-Près in Paris führte zu einer kulturellen Neubestimmung, die alle Lebensbereiche erfasste. Sartre hatte schon 1943 sein philosophische Hauptwerk »L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique« veröffentlicht. 1 kg, das die Marktfreuen als Gewicht verwendeten, so die Sage. In Wirklichkeit 722 Seiten, auf denen der Philosoph inmitten der deutschen Besatzung die Grundlagen der menschlichen Freiheit darlegte.
Camus seinerseits hatte 1942 »L’étranger« und »Le mythe de Sisyphe« veröffentlicht. Beide rezensierten sich gegenseitig: Sartre schrieb über L’étranger und Camus über »La nausée« (1938). Beide haben sich nach ihrem Treffen 1943 anlässlich der Premiere von Sartres Stück »Die Fliegen «im Théâtre de la Cité Première kennengelernt und angefreundet. Ihre Freundschaft sollte die Auseinandersetzungen (1952) nach dem Erscheinen von »L’homme révolté« (1951) über die Kritik am Kommunismus besonders stalinistischer Prägung nicht überstehen. Von 1943 bis 1947 schrieb Camus für Combat.
Poirier hatte den guten Gedanken, zuerst das Fiasko der Niederlage (S. 47 ff.) beginnend mit der Räumung des Louvre (18682 Kisten) zu beschreiben. Ab dem 14. Juni 1940 wurde Paris von den Deutschen besetzt (S. 53 ff). Es begann ein vier Jahre langes Martyrium der Stadt, viele Intellektuelle verließen vorher oder kurz darauf die Stadt. Sartre wird verhaftet und nach Trier gebracht. Anfang April 1941 fand Simone de Beauvoir unter ihrer Hotelzimmertür eine Notiz: „Ich bin im Café des Trois Mousquetaires.“ Sartre war die Flucht gelungen, er war wieder in Paris.
Auch für die anderen Zurückgebliebenen war die Besatzungszeit ein Bangen und Hoffen zwischen Widerstand, Untertauchen oder irgendeiner Form, sich mit den Besatzern zu arrangieren: „Sich für eine Seite entscheiden“: vgl. S. 67-75. Es entstanden kurze Dienstwege, um nur ein Beispiel zu nennen wie zwischen Jean Luchaire, Chefredakteur von Les Nouveaux Temps, der wusste, wann er den deutschen Botschafter Otto Abetz anrufen konnte, um jemanden aus einer misslichen Lage zu befreien: vgl. S. 59 f. oder zwischen dem Lektor Jean Paulhan von Gallimard und Gerhard Heller, der von Abetz der „Gruppe Schrifttum“ zugewiesen worden war: vgl. S. 64 f. Heller war es, der dafür sorgte, dass Sartres Die Fliegen in Paris aufgeführt werden konnte: Heller hatte erklärt, mit Widerstand hätte das Stück nichts zu tun.
Am 19. August 1944 begann der Aufstand in Paris und am 25. August war die Stadt befreit. Schließlich dauerte es noch bis zum 8. Mai 1945, bis Deutschland kapitulierte. Poirier lässt im 3. Kapitel Der Kampf – Leben auf Messer Schneide (S. 91-129) die ganze Dramatik und die Sehnsucht nach dem Ende des Krieges aufleben. Die Befreiung war ein Fest der Brüderlichkeit in Paris, ein Aufbruch zu Neuen Ufern, danach ist die Säuberung dran und die ersten Heimkehrer kommen zurück.
Das Fotoalbum zu diesem Buch: > Agnès Poirier, An den Ufern der Seine: Begleiten Sie uns durch das 6. Arrondissement in Paris?
Amerikaner reisen nach Paris und lassen sich von der wiederauflebenden intellektuellen Atmosphäre berauschen. Sartre fährt in die USA und lernt Dolorès Vanetti kennen und lieben. Auch wenn Simone de Beauvoir darüber nicht amüsiert war, sie wusste, dass ihre Beziehung offen war und Sartre zu ihr zurückkommen würde. Nicht nur die geistigen Debatten bekamen einen neuen Aufschwung und in der Liebe schien man alles Versäumte jetzt endlich nachholen zu können.
Die Existenzphilosophie war das große Thema nach der Befreiung: S. 163 ff. Sartre mit de Beauvoir gründete 1945 die Zeitschrift Les Temps modernes: S. 164-170, die den geistigen Aufbruch der Befreiung kanalisierte aber auch verstärkte und auf das Engagement fokussierte. Alle strittigen Themen wurden durchleuchtet und diskutiert. Die Existenzphilosophie wurde auf den Punkt gebracht: „Frauen und Männer waren das, was sie taten,“ S. 168. Am 29. Oktober 1945 war es soweit, Sartre betrat abends um halb neun den Club Maintenant und begann seinen berühmt gewordenen Vortrag : L’existentialisme est un humanisme (Paris: Nagel 1970). Sartre ließ später durchblicken, dass er mit dem Text nicht glücklich war und es ist auch einer der ganz wenigen seiner Texte, der nicht von Gallimard veröffentlicht wurde. Die Existenz geht der Essenz voraus: „l’homme existe d’abord, se rencontre, surgit dans le monde et … il se définit après.“ (EH, S. 21) Der Mensch ist das, was er aus sich macht, lautete die Botschaft des Existentialismus, er ist für sich verantwortlich und kann sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Da klingt auch Sartres politische Interesse für die Politik an, das er während der Besatzung entdeckt hatte. Das gilt im übrigen auch für das Engagement, so wie Sartre es 1947 in Qu’est,-ce que la littérature? definieren wird. Man kann nicht sagen, ich will mich jetzt engagieren, mit der ersten Silbe, die ein Autor schreibt, ist er bereits engagiert, weil er schon eine Verantwortung übernommen hat, von der er sich nicht befreien kann, also gehört das Engagement zu seinem Wesen. (1)
Sartres Thesen und seine Erfolge ziehen ihm die Kritik und den offenen Hass der Kommunisten zu, für die er eigentlich ein compagnon de route sein wollte, ohne je seine Überzeugungen(2) aufzugeben.
Sarte und Beauvoir waren natürlich keineswegs alleine in Paris, Poirier nennt fast alle, mit denen sie zusammenkamen, mit denen sie sich nicht nur trafen sondern auch intime Beziehungen aufnahmen. Jede ihrer Reisen war eine Gelegenheit, neue Liebschaften – Albert Camus lernt Marie Casarès (1922-1996) kennen (vgl. A. Camus, M. Casarès, Correspondance 1944-1959, Paris 2017, 1207 S.) kennen – zu machen, alte wieder aufzunehmen. Und es begann ein intensiver Austausch mit Amerikanern, wie um nur Richard Wright zu nennen, der als berühmter Vertreter der afroamerikanischen Literatur aus Brooklyn nach Paris kam und alle Impressionen aus dieser Stadt begierig aufnahm. Auf diese Weise legt Poirier hier, indem sie auch von vielen anderen Amerikanern erzählt, die es nach Paris zieht, auch eine aufregende Geschichte französisch-amerikanischen Kulturaustausch vor. Aber im Vordergrund stand der Existentialismus, der von Paris aus seine Siegestour rund um die Welt antrat Vgl. S: 183 ff. Am 21. Februar 1947 lernt Simone de Beauvoir Nelson Algren (1909-1981) in Chicago kennen. Es beginnt eine stürmische Liebschaft.
Wer mit wem, wie lange und welche Ideen wurden dabei ausgebrütet wurden, erzählt das Kapitel 6 Sinneslust und Emanzipation, als Überschrift goldrichtig gewählt, der Ausbruch aus allen Konventionen führte zu unkonventionellen Ideen. Arthur Koestler (1905-1983) und seine Frau Mamein wurde in den Sartre/Beauvoir Kreis im Winter 45/46 aufgenommen: Ihr Gelage am Abend vor Sartres Vortrag über den Existentialismus: vgl. S. 204-207 war ziemlich heftig.
Zu Beginn des Kalten Krieges werden die Auseinandersetzungen mit den Kommunisten immer brisanter. Gab es eine Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der die Nachteile beider vermied und deren Vorteile teilen konnte? David Rousset schlägt Sartre im Herbst 1948 die Gründung einer Partei vor: Rassemblement Démocratique et Révolutionnaire RDR. Sartre ist zunächst Feuer und Flamme, die Partei wird aber nur eine ephemere Lebensdauer beschieden sein wird, danach wendet sich Sartre von den Parteien ab.
Ausführlich berichtet Poirier von Theodore H. White, der als Auslandskorrespondent 1948 nach Paris kommt, um über die Auswirkungen des Marshall-Planes in Frankreich zu berichten. Nebenbei erzählt sie auch von der Eröffnung des Tabou in der rue de Dauphine, wo sogar Juliette Greco Türsteherin gespielt haben will: „Ich ließ nur Philosophen rein, soll sie gesagt haben“, vgl. S. 292. Überhaupt unsere Redaktion würde gerne jetzt mit Ihnen und diesem Buch und seiner Karte (S. 22-23) alle wichtigen Treffpunkte der Protagonisten dieses Buches im 5./6. Arrondissement in Paris aufsuchen. Danach hätten Sie einen vollkommen anderen Eindruck der französischen Hauptstadt. Nach der Lektüre dieses Buches haben Sie weitere riesige Lesepensen vor sich, würden sie viele der in diesem Buch genannten Titel sich beschaffen und lesen. In diesem Sinne legt Poirier eine spannende Literaturgeschichte vor, in dem sie wichtige Titel bekannter Romane und Theaterstücke nennt und einordnet.
Simone de Beauvoirs zweibändiges Werk auf Deutsch Das andere Geschlecht – vgl. S. 445-448 – liest sich wie ein Resümee dieser Epoche – und dieses Buches von Poirier – de Beauvoir will zeigen, wie Männer Frauen unterdrücken: vgl. Poirier S. 445, Poirier sagt, de Beauvoir nenne viele Beispiel, keine Belege, deshalb sei der Untertitel des 2. Bandes „L’expérience vecue“. Heute würde man sagen, in diesem Buch wird Klartext gesprochen, ohne Umschweife beschreibt sie den sexuellen Verkehr von Frau und Mann. Werden Frauen von der Gesellschaft zu Frauen gemacht und in die „Rolle eines Objekts“ gezwungen, wie de Beauvoir behauptet? Und sie hatte über Abtreibung geschrieben. Ihre Leser waren empört und die Post traf körbeweise ein.
Das Buch endet mit einem Aufbruch, die Idee von Jean Monnet, Frankreich und Deutschland mögen die Verwaltung von Kohle und Stahl unter eine supranationale Behörde stellen, läutete die Epoche der EWG ein: > 9. Mai 1950 : Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) – 9. Mai 2018.
Agnès Catherine Poirier, 1975 in Paris geboren, studierte an der London School of Economics und war für »Radio France« tätig. Seit 1998 lebt und arbeitet ...
Agnès Catherine Poirier, 1975 in Paris geboren, studierte an der London School of Economics und war für »Radio France« tätig. Seit 1998 lebt und arbeitet sie in London und Paris. Auf Englisch und Französisch schreibt sie in »Le Monde«, im »Nouvel Observateur«, im »Guardian«, in der »Times« und im »Observer«. Sie engagiert sich beim Filmfestival in Cannes für britische Filme und nimmt u.a. regelmäßig an außenpolitischen Diskussionen in der BBC teil.
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