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Interview mit Bernd Ulrich

Luisa Neubauer, Bernd Ulrich: Noch haben wir die Wahl. Ein Gespräch über Freiheit, Ökologie und den Konflikt der Generationen
4.8.2021

Die jüngste Hochwasserkatastrophe mit dem nie vorher erlebten Desaster an Zerstörungen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen begann mit einem außergewöhnlichen Starkregen, der in bestimmen Zonen auf eine offenkundig gut versiegelte Landschaft traf, wo kleine Gewässer keinen Raum mehr hatten sich auszudehnen. Eine Verkettung vieler sehr unglücklicher Umstände, zu denen aber auch der Klimawandel gehört, der ohne Zweifel auch als eine Ursache betrachtet werden muss.

Kurz vor der Bundestagswahl wird auf einmal in (fast) allen Parteien aufs Tempo gedrückt, das Klima steht überall ganz oben auf der Tagesordnung. Ein großer Autobauer glaubt allen (elektrisch) davon fahren zu können, in dem er die Abschaffung des Verbrennermotors noch in diesem Jahrzehnt ankündigt.

Die Pandemie betrifft uns ganz unmittelbar, in existentieller Weise. Gegen sie gibt es eine relativ leicht zu erreichende Vorsorge in Form der Impfungen. Der Klimawandel hingegen lässt ich nicht so einfach bekämpfen. Noch streiten sich die Gelehrten, ob Kipppunkte mit irreversibler Schädigung des Klimas durch CO2 bereits erreicht sind und ob ein Stopp der Erderwärmung  auf  1,5 Grad sich überhaupt noch realisieren lässt.

Interview mit Bernd Ulrich

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In dieser Situation kommt der Band »Noch haben wir die Wahl« von Luisa Neubauer und dem ZEIT-Redakteur Bernd Ulrich mit dem Untertitel Ein Gespräch über Freiheit, Ökologie und den Konflikt der Generationen bei Tropen genau zum richtigen Zeitpunkt. Und man kann den Fortschritt ermessen, den   Luisa Neubauer mit diesem Gespräch präsentieren kann: Unsere Redaktion hat sie und Alexander Repenning im September 2019 getroffen »Nachgefragt: Luisa Neubauer, Alexander Repenning, Vom Ende der Klimakrise Eine Geschichte unserer Zukunft« (4. September 2019),  aber beide Bücher gehören zusammen. Band I mit dem aufrüttelnden Aufruf zur Aktion und dem jetzt erschienenen Band, der die Klimaprobleme, ihre möglichen möglichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen im Gespräch mit dem viel älteren  Bernd Ulrich diskutiert, einordnet und bewertet.

Luisa Neubauer und Bernd Ulrich wollen mit ihrem Gespräch uns auf mehrere Zäsuren vorbereiten. Zum einen geht es um die Auswirkungen der Klimakrise, deren Effekte – nicht nur durch das jüngster Hochwasser – sich immer deutlicher zeigen, zum anderen nehmen sie das Ende der Ära Merkel in den Blick und die damit einhergehende Neujustierung der Politik. In einer ungewöhnlichen Weise hat jüngst das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung aufgefordert, die offenkundig vernachlässigten Freiheitsrechte der jungen Generation besser in den Blick zu nehmen und die bestehenden Gesetze im Kampf gegen den Klimawandel zu schärfen. Die richtige Richtung meint Luisa Neubauer und gibt zu erkennen, dass sie sich über diese Entwicklung aber noch nicht über das Ergebnis freut. Sie hat allen Grund dazu, da die von ihr  initiierte Bewegung Fridays for Future so tatsächlich einen bemerkenswerten Erfolg verbuchen konnte. Aber sie gibt sich im Gespräch mit Bernd Ulrich kämpferisch und will durchblicken lassen, dass die Bewegung zum Schutz des Klimas, eigentlich erst am Anfang steht.

Die Politik hat viel, zuviel Zeit verstreichen lassen, sie selber, so berichtet sie, sie sei  2015 klimamäßig aufgewacht und habe sich zunächst gedacht, die Politik werde es schon richten; bald merkte sie, dass dem nicht so ist und begann, sich an allen Fronten zu engagieren. Die Corona-Krise hat in ihren Augen die Klimakrise keineswegs verdrängt, sondern eher die Aufmerksamkeit für den Umgang mit der Natur geschärft. Bleibt die Frage, warum Politiker so zögerlich sind: „Und gleichzeitig müssen wir den Menschen nun erklären, dass die Pandemie im Kontext der ökologischen Krisen praktisch als Aperitif des Jahrhunderts zu verstehen ist.“ (S. 39) Beide Krisen haben etwas in der Hinsicht miteinander zu tun, wie man mit ihnen umgeht. Neubauer erinnert zuerst daran, dass Corona als TOP 1 behandelt wird und das Klima nach hinten rutscht, wobei man jetzt den Kampf gegen den Klimawandel als Bejahung contra Einschluss aufwerten müsste.

„Klimaschutz ist Freiheitsschutz,“ erklärt Neubauer und erinnert an die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts… Bernd Ulrich, weist aber daraufhin, dass nun die Politik am Zuge ist, den vorgegebenen Rahmen des BvG mit Leben zu erfüllen.

Bernd Ulrich muss nicht lange darauf warten, bis Neubauer auch den Medien Versäumnisse – 17 Fehler der Journalisten in der Klimakrise (S. 59-61) vorwirft, die Ulrich einordnet. Etwas relativiert er aber dem Vorwurf, dass die Medien zu wenig zum Klima gesagt haben, im Grunde genommen stimmt er zu auch wenn er noch hinzufügt, für Meldungen müsse es immer einen Anlass geben… Zur Einordnung der Klimakrise sagt Neubauer in ihrem ersten Punkt, dass es sich nicht um eine Krise des Klimas und sondern um eine des Menschen handle (vgl. S. 59) und schlägt damit auch den Ton dieses Buches an. Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass die Klimakrise nicht als Ereignis, sondern als Prozess (vgl. S. 63 und 67) zu beschreiben ist. – Überhaupt kann man dieses Buch lesen und durcharbeiten und bei der Lektüre ein Glossar zur Klima-Problematik erstellen: eine nützliche und lehrreiche Lektüre auch für Schüler/innen, die Referate vorbereiten.

Sehr interessant sind die Anmerkungen von Neubauer und Ulrich zum Ende der Ära Merkel: „Ihr Politikstil, sagt Ulrich, war vorauseilende Anpassungen an das zu erwartende, nicht immer an das für das Land zuträgliche Ereignis“ (S. 80) und fügt hinzu „… diesem auf erfolgreiche Weise Nicht-Programmatischen“ (S. 81) und umreißt so die 16 Jahre ihrer Kanzlerschaft. Neubauer berichtet von ihrer Begegnung mit Angela Merkel: „…Klimapolitik scheint in ihren Augen ohnehin schwerlich vereinbar mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und der Demokratie.“ (S. 92)

In diesem Zusammenhang wird auch die Frage gestellt, ob die Union Ökologie kann? Eine Gelegenheit für Neubauer ihre Überlegungen zur Bildung von Mehrheiten vorzutragen, ist sie doch überzeugt, „Sozialer Wandel wurde historisch immer wieder von den sogenannten sozialen Rändern erstritten.“ (S. 122)

Richtig ernst wird es bei der Frage, wie die Parteien zu dem 1,5-Grad-Limit stehen und Neubauer erkennt den Wandel der SPD zu „sozial, digital und klimaneutral“ (S. 129) an.

Kapitel 9 enthält eine Geschichte von Fridays for Future während der Pandemie und versucht ihren Ansatz eines Klimaschutzes als Beitrag für soziale Gerechtigkeit zu verteidigen. (vgl. S. 139) In diesem Zusammenhang nennt sie auch historische Dimensionen der Klimakrise, ihre Wurzeln und die Zusammenhänge mit der „kolonialen, rassistischen Ausbeutung“ (S. 145) Sie beharrt auf der Intersektionalität, der „Verknüpfung der Klimakrise mit anderen Gerechtigkeitskrisen“ (S. 144 und vgl. S. 147)

Im Mittelpunkt des Gesprächs zwischen Luisa Neubauer und Bernd Ulrich steht natürlich auch der Generationenkonflikt und Neubauer fragt sich oder Ulrich, mit Blick auf die nächsten 30 Jahre, wieso man die zu erwartenden Schäden nicht schon in den letzten 30 Jahren bedacht habe. (vgl. S. 159) Beide schonen sich kein bisschen in ihrem Gespräch und ringen um eine Interpretation, die sie beide akzeptieren können. Es geht um die heute 80-jährigen, die Boomer und die Generation von Neubauer; wie oben gibt Ulrich Versäumnisse der Boomer zu. Interessant wie Neubauer einlenkt und darauf hinweist, dass der Generationenkonflikt von ihrer Bewegung keinesfalls beabsichtigt war, sondern durch „Arroganz und Überheblichkeit“ (S. 164) ihr von außen aufgezwungen wurde.

Man könnte sagen, beide gehen ans Eingemachte, als es um die Frage „Follow the Science“ (S. 167) geht. Wie ist es um das Verhältnis von Wissenschaft und Politik bestellt? Wer folgt wem? Bernd spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die „Kluft zwischen Erkenntnistiefe und Erkenntnistiefe“ immer größer wird. Konkret: „Wir greifen immer mehr in eine Natur ein, von der wir radikal zu wenig wissen“ (S. 169) und Neubauer beklagt die mangelnde Resonanz der Forschung in der Öffentlichkeit.

Am Ende ihres Gesprächs geht es um den Ausblick in die Zukunft. Was passiert eigentlich, wenn die Klimaziele erreicht werden? Kapitel 12. „Geopolitik auf einer neuen Erde – Was nach der fossilen Weltordnung kommt.“ Muss dann jedes Handbuch der internationalen Politik neu geschrieben werden, weil die Macht nicht mehr auf fossilen Grundlagen beruhen wird? Ulrich bringt das auf die knappe Formel: „Denkweise verändern zu postfossil und postdominant“. (S. 175) Kein Wunder, dass Neubauer jetzt auf die „enge Verdrahtung von Kohleindustrie und Politik“ (S. 177) verweist.

Jetzt kommt die Gretchenfrage, gibt es eine Moral in der Politik? Kann man überhaupt nach grüner Demokratie und ökologischer Moral fragen? Es gehe auch um die Überwindung der großen illusorischen Konsumwelt (vgl. S. 191), so Neubauer.

„Kreislaufwirtschaft“ (S. 216) ist eines der Themen, das zur Reparatur der Klimakrise beitragen soll. eine andere Frage lautet „woher die Materialität der Belohnung kommt“ (Ulrich, S. 217) und es geht auch um „soziale Resilienz“ (Neubauer, S. 219)

Wie schon angedeutet, ist dieses Buch für weiterführende Diskussionen eine willkommen Grundlage und nochmal zur Wiederholung, es auch für die Schule geeignet, weil es viele Anregungen bietet, mit Hilfe der Informationen auf den Seiten der Medien und der Forschung Informationen nachzuprüfen und sie einzuordnen.

Heiner Wittmann

Noch haben wir die Wahl

Ein Gespräch über Freiheit, Ökologie und den Konflikt der Generationen

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Beteiligte Personen

Bernd Ulrich

Bernd Ulrich, geboren 1960 in Essen, ist stellvertretender Chefredakteur der ZEIT. Für seine journalistische Arbeit erhielt er 2013 den Henri-Nannen-Preis...

Bernd Ulrich, geboren 1960 in Essen, ist stellvertretender Chefredakteur der ZEIT. Für seine journalistische Arbeit erhielt er 2013 den Henri-Nannen-Preis und 2015 den Theodor-Wolff-Preis. Zuletzt erschienen von ihm: Guten Morgen, Abendland (2017) und Alles wird anders (2019).


© Axel Martens

Luisa Neubauer

Luisa Neubauer, geboren 1996 in Hamburg, ist eine der weltweit bekanntesten Klimaaktivistinnen. Die Geographiestudentin lebt in Göttingen und Berlin. Zul...

Luisa Neubauer, geboren 1996 in Hamburg, ist eine der weltweit bekanntesten Klimaaktivistinnen. Die Geographiestudentin lebt in Göttingen und Berlin. Zuletzt erschien von ihr und Alexander Repenning Vom Ende der Klimakrise (2019) und mit Bernd Ulrich Noch haben wir die Wahl (2021). Seit 2020 hostet sie den Klimapodcast 1,5 Grad.

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