Der vorliegende Band ist eine Überarbeitung der Einführung in die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, die 2001 als 13. Band des Gebhardt erschienen war. Für die vorliegende Ausgabe hat der Autor den Text erheblich erweitert und dem aktuellen Stand der Forschung angepasst.
Als „analytischer Essay“ konzentriert sich dieser Band auf die Darstellung dieser Epoche, „ihren inneren Zusammenhang und ihre Besonderheiten im Vergleich zur Zeit davor und danach.“ (S. 8) Dieses Buch erläutert die Modernisierungsschübe, wie die Industrialisierung, der Kapitalismus und das sich beschleunigenden Bevölkerungswachstum aber auch die „aufsteigenden Nationalstaaten“ (S. 9) wie den damit verbundenen Nationalismus. Es wird die Globalisierung genannt, die mit den Kriegen im 20. Jahrhundert zunächst erst wieder verloren ging. Darüberhinaus wird das Jahrhundert als eines des Bürgertums ausführlich thematisiert: „Die Bürgerlichkeit, ihre Grenzen und die Entstehung eine zukunftsträchtigen Zivilgesellschaft sind zentrale Merkmale des 19. Jahrhunderts in Deutschland“, die der Autor hier im Einzelnen analysiert. Dabei werden die Beharrungskräfte deutlich, womit die Herrschaftseliten gemeint sind, die in „bemerkenswerter Starrheit“ (S. 9) ihre Positionen und Privilegien verteidigen können.
Das erste Kapitel „Bilder vom 19. Jahrhundert im Wandel“ erklärt, wie sich die Vorstellungen vom 19. Jahrhundert nach 1945 gewandelt haben und bildet eine gute Grundlage, um die Stichworte, Nation, Kapitalismus, Imperialismus, Demokratisierung wie auch die Moderne sachgerecht einordnen zu können.
Im 2. und 3. Kapitel werden die Industrialisierung und die Bevölkerungszunahme analysiert. Das 4. Kapitel stellt die Frage, ob das 19. Jahrhundert ein bürgerliches Jahrhundert war? Zum einen entstand eine ausgeprägte Klassengesellschaft, aber es gab auch Spannungen zwischen den Konfessionen, zwischen Stadt und Land, zwischen Mehrheiten und Minderheiten (vgl. S: 75), besonders aber verschärften sich die Unterscheide zwischen Mann und Frau und Kocka zeigt, dass der Geschlechterdifferenz in der letzten Zeit eine große Aufmerksamkeit der Forschung zuteilgeworden ist. Im Zuge der Industrialisierung verschärfte sich die Trennung von Haushalt mit der Familie und dem Erwerbsort ganz besonders im entstehenden Bürgertum. Männer und Frauen wurden immer weniger in dieselben Arbeitsprozesse einbezogen. Eine immer stärkere Profilierung nach Geschlechtern bildete sich heraus. Allmählich wurde auch das Recht auf politische Teilnahme für Frauen formuliert: erste1908 durften sie politischen Vereinen beitreten. Die Frauenbewegung, die in den 1860er Jahren entstand war, so Kocka, (vgl. S: 80) zunächst ein bürgerliches Phänomen. Die höhere Schulbildung für Mädchen ab den 1870 Jahren und die Erschießung neuer Berufsmöglichkeiten für Frauen gehörten zu ihren Erfolgen. Mit Einschränkungen bejaht Kocka die Frage, ob das 19. Jahrhundert ein bürgerliches Jahrhundert war. (vgl. S: 103) Mit Einschränkungen, weil das Bürgertum eine Minderheit blieb und sich gegenüber dem Adel und der Oberschicht nicht durchsetzen konnte. Dennoch drückte es dem Jahrhundert seinen Stempel auf. (vgl. ebd.) Die offenkundigen sozialen Ungleichheiten und die erhebliche Geschlechterdifferenz führten zu Reformen.
Das 5. Kapitel behandelt den „Nationalstaat, Integration, Krieg“, wobei die Nationsbildung bis zum Nationalismus hier im Vordergrund stehen: „Nationalismus und Staatsmacht rückten nun erstmals zusammen“. (S. 112) Während in Frankreich die „Volkssouveränität und der Anspruch auf Gleichheit“ im Vordergrund standen, stand in Deutschland die „Kultur- und Sprachgemeinschaft“ im Vordergrund. (S. 114).
Das 6. Kapitel „Das Jahrhundert als Epoche und der deutsche Fall“ enthält einen besonderen interessanten Abschnitt, in dem der „c) Durchbruch der Moderne“ (S. 139-146) diskutiert wird. Und schließlich geht es um die Frage, ob das 19. Jahrhundert als „Teil der Vorgeschichte der scheiternden Weimarer Republik, des Sieges des Nationalsozialismus und seiner katastrophalen Folgen“ (S. 145) zu sehen ist oder ob das 19. Jahrhundert „in die Vorgeschichte der Bundesrepublik“ einzuordnen sei.
Kockas knappe und so präzise Darstellung bildet für jeden historische Interessierten eine spannende Grundlage, die Epoche des 19. Jahrhunderts mit ihren Anfängen, ihren Entwicklungen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht , sowie seine Fernwirkung besser zu verstehen.
Heiner Wittmann
Jürgen Kocka, geboren 1941, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Marburg, Wien, Berlin und Chapel Hill (North Carolina), promovierte 1968 an de...
Jürgen Kocka, geboren 1941, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Marburg, Wien, Berlin und Chapel Hill (North Carolina), promovierte 1968 an der FU Berlin und habilitierte sich 1972 für Neuere Geschichte in Münster. 1973-1988 lehrte er Sozialgeschichte in Bielefeld. Seit 1988 ist er Professor für Geschichte der Industriellen Welt an der FU Berlin und seit 2001 Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Leibniz-Preis der DFG 1991. Präsident der Internation...
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