Eigentlich besteht das Buch von Martin Bleif, »Das Tier in uns. Die biologischen Wurzeln der Menschheit« aus vier Büchern. Wären aber diese vier Bände I. Evolution, II. Gene, III. Zellen und IV. Gehirn einzeln veröffentlicht worden, wäre aber gerade die so einleuchtende Sicht des Autors, die er im Prolog vorstellt: „Die Welt als ein mehrgeschossiges Gebäude“ (S. 11 ff.) und „Die Welt in Stockwerken“ (S. 13 ff.) vielleicht nicht so präzise formuliert worden.
> Der biologische Salon: Martin Bleif, Das Tier in uns. Die biologischen Wurzeln der Menschheit
Die Gretchenfragen im Prolog lauten: „Kann die moderne Biologie etwas zum Streit über die Natur des Menschen beitragen?“ (S.12) Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? Wie steht es um das Verhältnis von Natur und Kultur? Bis ins 19. Jahrhundert haben die Naturwissenschaften wenig zur conditio humana beitragen können, so der Autor, das habe sich aber seitdem geändert und die These von Martin Bleif lautet: vielleicht könne die Biologie heute an einigen Stellen in die Rolle des Schiedsrichters treten.
Martin Bleif studierte Medizin und war Leitender Oberarzt sowie stellvertretender Ärztlicher Direktor an der Klinik für Radioonkologie der Universität Tübingen. Als Facharzt für Strahlentherapie ist er seit 2012 Leitender Arzt an der Klinik für Radioonkologie in den Alb-Fils-Kliniken in Göppingen und arbeitet mit dem gesamten Spektrum der radioonkologischen Krebstherapie: M. Bleif, »Krebs. Die unsterbliche Krankheit«, 1. Aufl. 2015, 528 Seiten, Taschenbuch. ISBN: 978-3-608-98057-8.
Der Abschnitt „Eine Welt in Stockwerken“ des Prologs in »Das Tier in uns« erläutert den Aufbau der Wissenschaften in der Welt, in der für jedes Stockwerk eine Disziplin zuständig ist: Im Keller die noch nicht verstandene Physik, im ersten Stock die Chemie mit der organischen Chemie und der Biochemie. Dann kommen wir im 2. Stock zu den Lebewesen und der Biologie, Psychologen, Linguisten und Kulturwissenschaftler kommen hinzu. Im dritten Stock befindet sich die Kultur. Dieses Resümee vereinfacht den Prolog eigentlich in unzulässiger Weise, ist er doch so einleuchtend und präzise geschrieben, dass der Leser nach dessen Lektüre einfach weiterlesen muss.
Und es gibt noch eine „Gebrauchsanleitung“ (S. 16-20), die die Grenzen der Biologie aufzeigt, aber auch unterstreicht, dass sie in Sachen Evolution sehr wohl zuständig ist und einiges, ja grundlegendes, gerade zu den hier vorgestellten Zusammenhängen von Evolution, Genen, Zellen und Gehirnen zu sagen hat. Und schließlich läuft das alles nicht auf eine Interdisziplinarität sondern auf eine in diesem Band gut begründete Kooperation der Disziplinen hinaus.
Teil I Evolution: So umfangreich wie dieses ganze Buch »Das Tier in uns« ist, so knapp wird hier die Geschichte die Evolutionstheorie in ihrer historischen und erkenntnistheoretischen Aspekten erklärt. Mehrere Exkurse vertiefen einzelne Aspekte: Fitness, Mode, Gute Gene, Das Handicap-Prinzip, Rennpferd, Grashüpfer oder Schnecke: Das Problem der wechselnden Geschwindigkeiten, Der Fluch der guten Tat?, Über proximale Mechanismen und ultimative Ursachen, Argumente für die Indivdualselektion/Gruppenselektion und Multi-Level-Selektion. Eine ernstzunehmende Alternative zur Evolutionstheorie gebe es nicht, erklärt der Autor am Ende dieses ersten Teils seines Buches, das keineswegs nur für Spezialisten verfasst ist, sondern ganz sicherlich auch Schülern in der Oberstufe spannende Perspektiven auf die Themen dieses Buches und sehr lehrreiche Unterstützung für ihre Referate bietet.
Auf S. 99 beginnt eine erste Zwischenbilanz mit der Feststellung: „… die moderne Theorie der Evolution taugt gleich aus zwei Gründen nicht zum Kronzeugen für ein pessimistisches Menschenbild.“ (S. 100) Zum einen nennt der Autor als Grund die Erkenntnisse der Biologie über die Evolution, zum anderen, weil der Mensch als „spezielles Tier… etwas in Gang gesetzt“ hat, „das sich nicht mehr sinnvoll ausschließlich innerhalb biologischer Kategorien und Begrifflichkeiten beschreiben lässt.“ Dazu mehr im Kapitel vier, verspricht hier der Autor. Hier ist also eine der Gelenkstellen in diesem Buch, die nachdrücklich unterstreicht, dass es eine gute Idee war, die vier Bücher dieses Bandes nicht einzeln zu veröffentlichen, denn nur der vierfache Blick auf die Ursprünge und den Aufbau des Menschen mit seinen Genen und Zellen ermöglicht es erst, sein Gehirn in den Blick zu nehmen. Und die Biologie kann mit ihren Erkenntnissen im Rahmen der Evolution ganz Entscheidendes zum Verständnis unseres Menschenbildes beitragen, denn im Zentrum die Evolution steht gerade nicht nur die Konfrontation sondern „Kooperation und Geschäfte“ (S. 101). Kein Wunder, dass es im letzten Teil des Buches über die Evolution um die > Moral geht: S. 103-135, einschließlich eines Exkurses über die > Menschenrechte (www.france-blog.info).
Teil II Gene: Johann Gregor Mendel (1822-1884) steht hier im Mittelpunkt dieses Buches. Er kannte den Begriff des Gens noch nicht, aber die Forscher nach ihm erreichten auf der Grundlage seiner Forschungen die bahnbrechende Erkenntnisse über Gene. Wieder erläutert Bleif mit mehreren Exkursen Einzelfragen wie die Copy Number Variatons oder SNPS und Indel-Polymorphismen. Und wieder gibt es eine Gretchenfrage: „Wie weit reicht die Macht der Gene?“ (S. 170) Sartre erklärte 1946 in seinem berühmten Vortrag „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“ die Antwort so: der Mensch existiere zuerst und definiere sich erst später…
Heiner Wittmann
Wie bitte? Der Mensch habe kaum mehr Gene als einen Maus? Mensch und Schimpanse sind zu 99 % identisch? (vgl. S. 172) Und dann zitiert Bleif ganz unerwartet „Der Flügelflagel gaustert/ durchs Wiruwaruholz/die rote Fingur plaustert/ und grausig gutzt der Golz“ (mehr zur Sprache S. 197 ff.) und erklärt so mit Morgenstern (der im Index fehlt), was Genetiker zunächst aus einer entschlüsselten Sequenz eines Genoms herauslesen… Und auf einmal verstehen wir die Laktosetoleranz (S. 177 ff.)
„Gene sind Moleküle ‚aus Fleisch und Blut'“, heißt es auf S. 201 in der ersten Zwischenbilanz.
S. 203-239: Hier geht es um die kniffligen Themen wie Erbe und Erziehung. Bedenkt man, „Gene sind Anpassungen an sich wandelnde Erfordernisse,“ (S. 235), scheint sich eine Antwort abzuzeichnen?
Teil III Zellen:Die Zutaten für den Menschen sind weitaus geringer als die für ein Hochzeitsmahl (vgl. S. 243). Welche Theorien gibt es für das Entstehen der Zellen und damit für das Leben? Viele Exkurse bieten auch in diesem Teil genügend Stoff für Referate eines Kurses, in dem Schülerinnen und Schüler sich mit der Zellbiologie beschäftigen: „Mit der Erfindung der ersten Zelle wurde das Leben erfunden.“ (S. 309) Wieder gibt es eine Gelenkstelle, in der Atome und die Freiheit der menschlichen Existenz (S. 311-322 und S. 353 f.) hier belegen, wieso die vier Bücher in diesem Buch nicht getrennt werden dürfen, weil sonst die These der Autors und wir eben nicht zu verstehen ist.
Teil IV Gehirne: Nur über die Zelltheorie kann der Aufbau des Gehirns verstanden werden. Aber gerade in den letzten Jahrzehnten ist die Forschung um viele Schritte weitergekommen, die Bleif hier im einzelnen vorstellt. Man versteht jetzt die Karte und den Schaltplan des Gehirns (S. 357-372) und damit die Grundlagen des Gedächtnisses (S. 382-397) noch besser: womit wir beim > Lernen angekommen sind. Nach dem Aufbau des Gehirns geht es im Folgenden um die Funktionen wie das Wahrnehmen: Drei Exkurse zur Frage „Wie kommen die Bilder in den Kopf?“ und wie funktioniert der Zusammenhang von Denken und Handeln? S. 444 fff.
In der vierten Zwischenbilanz geht es um die „Grenzfläche zwischen Mensch und Tier“ (S. 499-505).
Im Epilog kommt Martin Bleif auf den Begriff der > Freiheit zurück, zu dem die Biologie anscheinend nichts beizutragen habe, aber dennoch gelte, dass sich kein anderes Tier stärker von seinen biologischen Wurzeln und von genetisch programmiertem, instinktiv motiviertem Verhalten emanzipiert habeals wir. Und „der Schlüsselsatz in diesem Buch: „Menschen sind ihre biologische Grenzen und ihre Freiheitsgrade.“ (S. 534) Deshalb kommt Bleif selbstverständlich auf die > Menschenrechte (www.france-blog.info zu sprechen.
Dieses Buch ist eine so gelungene Erinnerung daran, dass die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften künstlicher Natur ist, Natur und Geist so eng voneinander abhängen, dass nur ihre Kooperation uns alle weiterbringen kann.
Heiner Wittmann
Martin Bleif, geboren 1964, studierte Medizin und war Leitender Oberarzt sowie stellvertretender Ärztlicher Direktor an der Klinik für Radioonkologie der ...
Martin Bleif, geboren 1964, studierte Medizin und war Leitender Oberarzt sowie stellvertretender Ärztlicher Direktor an der Klinik für Radioonkologie der Universität Tübingen. Als Facharzt für Strahlentherapie ist er seit 2012 Leitender Arzt an der Klinik für Radioonkologie in den Alb-Fils-Kliniken in Göppingen und arbeitet mit dem gesamten Spektrum der radioonkologischen Krebstherapie. Seine Frau Imogen, bei der 2008 Brustkrebs diagnostiziert wurde, starb am 15. März 2010 in Tübingen.
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