Der naturwissenschaftliche Realitätsbegriff der Hirnforschung erfasst nicht das synthetisch Lebendige und nicht das Denken des Gehirns als unermessliches Widerspruchsfeld. Als historisches Organ ist das Gehirn nur organisch nicht begreifbar. Für eine Hirnforschung als dialektische Sozialwissenschaft steht die Rückkoppelung zwischen dem Hirn als Werk und Denkwerkzeug im argumentativen Zentrum, eine noch immer für Forscher -- die dem naturwissenschaftlichen Realitätsbegriffe anhängen -- provokante "Top-down"-These. Es wird für eine Paradigmenkorrektur plädiert. Immerhin, Psychotherapie (Familientherapie) argumentiert und operiert weitgehend wie die kritische Philosophie, denn jede psychotherapeutische Intervention weist unvermeidlich derartige Rückwirkungseffekte auf. Als konkrete dialektische Problemfelder werden diskutiert: die Risiken der heutigen Beschleunigungsgesellschaften, die Bedeutung von Mehrfachidentitäten, die emotionelle Polarität zwischen positiv besetzter Kleingruppe (Familie) und negativ besetzter Organisation, die Widersprüche bzw. Ambivalenzen von Bewahren und Verändern, der Kampf um Deutungsmacht, die Reflexionsverweigerung.
Wird der Aufstieg der Neurowissenschaften die Psychotherapie unterstützen oder in wissenschaftlicher und klinischer Hinsicht in Bedrängnis bringen? Der vorliegende Artikel argumentiert trotz des vorherrschenden Reduktionismus in der Neurowissenschaft für eine Ko-Evolution von Psychotherapie und Neurowissenschaft zu einer Neuro-Psychotherapie, die das wachsende neurowissenschaftliche Wissen für die Verbesserung psychotherapeutischer Verfahren nutzt. Beide Disziplinen konvergieren über die Themen der Verkörperung, der sozialen Kognition und der Emotion. Der Artikel diskutiert diese Konvergenz und beleuchtet den neurowissenschaftlichen Zugang zu verkörperter Kognition anhand der "Theory of mind"-Fähigkeit und der Neurobiologie sozialer Normen.
Die heute gültigen Diagnose- und Klassifikationssysteme psychischer Störungen verzichten im Wesentlichen auf psychopathogenetische oder -logische Einordnung und ermöglichen durch reine Verhaltensbeschreibung eine Offenheit für verschiedene psycho- oder auch pharmakotherapeutische Ansätze. Die Beschränkung auf phänomenologische Aspekte der Störungsbilder birgt die Gefahr, allein auf die Wiederherstellung der Funktionalität zu fokussieren, ohne die Entwicklungs- und Lebensumstände des betroffenen Menschen zu berücksichtigen. Zudem fasziniert die neurobiologische Forschung mit neuen Techniken, das Gehirn gleichsam bei der Arbeit zu beobachten und nährt damit die Illusion, mit diesen Beobachtungen zugleich das zentrale Geschehen im Fall von Gesundheit oder Kranksein erfasst zu haben. Damit einher geht die Neigung zu einem neurobiologischen Reduktionismus, dem die pharmazeutische Industrie mit der Entwicklung von Substanzen entspricht, die anscheinend ein gezieltes Eingreifen in den Hirnmetabolismus ermöglichen. Schnelle Wirksamkeit innerhalb der "black box" zu erreichen korrespondiert mit einer Intention der "Schnellfeuerkultur", die der chemischen Intervention gegenüber besonders aufgeschlossen scheint. Der Umgang mit dem ADHS-Konstrukt liefert ein anschauliches Beispiel für eine moderne therapeutische Haltung, die der Arzneianwendung größeres Vertrauen einräumt, als einem komplexeren psychotherapeutischen Handeln. Die therapeutische Zukunft tut gut daran, biologische und psychotherapeutische Sichtweisen zu integrieren.
In den letzten Jahren sind viele Publikationen erschienen, die sich mit den Ergebnissen und Fragestellungen der durch die bildgebenden Verfahren bereicherten Hirnforschung beschäftigen. Die von der Hirnforschung aufgeworfenen Fragen haben inzwischen auch den psychotherapeutischen Diskurs erreicht. Was sind die Konsequenzen für Psychologie und Psychotherapie? Der Artikel gibt einen Überblick über die Geschichte der Psychologie, die immer Naturwissenschaft sein wollte, und sieht die Psychologie in der reduktionistischen Hirnforschung ("alles Neuro") auf ihre Ursprünge zurückkommen. In einer kritischen Würdigung bespricht der Autor ausführlich fünf aktuelle Bücher daraufhin, welche Fragen sie offen lassen, mit welchen Inkonsistenzen sie argumentieren und ob sie der Psychotherapie etwas zu sagen haben.
Fischer bezweifelt die Kommensurabilität beider Paradigmen und wirft anhand der besprochenen Bücher und Bilder des Mentalen die Frage auf, ob die vorschnelle Übersetzung neurowissenschaftlicher Hypothesen in die Psychotherapie nicht zu einem "lost in translation" zwischen beiden führt. Eine Psychotherapie, die die Beobachtungskriterien -- die Unterscheidungen, mittels derer beobachtet wird -- für Erfolg oder Misserfolg aus der Hirnforschung übernähme, wäre zur Hirntherapie geworden, die ihr Selbstverständnis und ihre Identität als Psychotherapie aufgegeben hätte.
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