Politzer wirft die Frage auf, warum Freud die letzte Tragödie des Sophokles, »Ödipus auf Kolonos«, deren allgemeiner Inhalt ihm sicherlich bekannt war, nie erwähnt hat. Seine Rekonstruktion des Schauspiels führt zum Finale, der Entrückung des Ödipus im Hain der Eumeniden. Sucht die Tragödie allgemein den Mythos zu bewältigen, so wird hier (mit dem Tabu von Ödipus' Tod) ein neuer, tröstlicher Mythos eingeführt: der Psychologe Sophokles dankt ab, das analytische Drama wird Mythographie. Politzer meint, Freuds Vorbeigehen am Ödipus Koloneus von dieser Schlußszene herleiten zu können: Dem Psychoanalytiker und Anti-Illusionisten mußte die mythische Verklärung des Ödipus unerträglich sein.
Oedipus on Colonus: Essay on some common ground of psychoanalysis and literary criticism
Politzer raises the question why Freud never mentioned Sophocles’ late tragedy »Oedipus on Colonus«, the general content of which must surely have been known to him. His reconstruction of the drama leads to the finale, the transfiguration of Oedipus in the grove of the Eumenides. While tragedy seeks to master the myth, a new, consoling myth is introduced representing the taboo against the death of Oedipus. Sophocles, the psychologist, abdicates; the analytic drama becomes mythography. Politzer believes that Freud’s passing over of Oedipus Coloneus can be derived from the final scene: the psychoanalyst and anti-illusionist must have found the mystical apotheosis of Oedipus unbearable.
Der junge Schopenhauer richtete an Goethe im November 1815 einen überschwenglichen Danksagungsbrief für die ihm zuteil gewordene Anerkennung. Ferenczi meint, daß in Reaktion auf diese Anerkennung durch eine Autorität Schopenhauer nicht zufällig auf den Ödipusmythos zurückgriff, um die Arbeit des Philosophen zu charakterisieren. Die psychologische Determination, die zur Wahl dieses Gleichnisses führte, blieb Schopenhauer ebenso verborgen wie der psychologische »Inhalt«, der im Mythos verarbeitet wird. Aber er deckte als erster die psychische Dynamik auf, die ebenfalls im Mythos Ausdruck findet – seine »funktionale Bedeutung«: Ödipus verkörpert das (männliche) Realitätsprinzip, Jokaste das (weibliche) Lustprinzip. Im Mythos gelangt der schmerzvolle Aufbruch der Menschengattung aus der Naturverfallenheit zur Darstellung.
Stierlin erörtert Hölderlins Lebensschicksal und einige dichterischen Motive vor dem Hintergrund der neueren Schizophrenieforschung. Am lebensgeschichtlichen Ursprung der mit ästhetischer Produktivität gepaarten schizophrenen Störung steht häufig eine Mutter, in deren Reaktionen zarte Antwortbereitschaft, Unfähigkeit zur Einfühlung und versklavende Bindung sich mischen. Die Sehnsucht nach Wiedervereinigung mit der Mutter, die zugleich gefürchtet (weil mit dem Tod identifiziert) wird, ist häufig der Basiskonflikt von Schizophrenen. Hölderlin hat sie im »Tod des Empedokles« gestaltet. Die Dichtungen seiner überaus produktiven »Spät«-Phase (zwischen seinem Ausscheiden aus dem Hause Gontard und seiner Umnachtung) zeigen die unauflösliche Verschränkung selbstheilender und destruktiver Prozesse.
Doderers Strudlhofstiege (1951) wird im Zusammenhang des Gesamtwerks als eine Art Bildungsroman vorgestellt, dessen Protagonist sich aus präödipaler Verstrickung zu Selbständigkeit (stabiler Identität, stabilen Objektrepräsentanzen) heraufarbeitet. Der Konflikt, den die Hauptfigur und ihre Mit- und Gegenspieler (unter denen auch der Autor figuriert) durcharbeiten, resultiert aus dem Widerstreit einer Tendenz zu symbiotischer Regression und einer ihr entgegen wirkenden zu Realitätszuwendung und -bewältigung. Die »Strudlhofstiege« symbolisiert eine Beziehung ohne Selbstverlust – den Gegenpol zu Trennungsangst und Zwillingsphantasie. Dettmering zeichnet die von Doderer dichterisch entwickelten Konflikte und Lösungsversuche mit Hilfe psychoanalytischer Kategorien und Theoreme nach.
Separation anxiety and twin phantasies in Heimito von Doderer’s novel »Die Strudlhofstiege«
H. von Doderer’s (1951) book is presented as a kind of educative novel, the hero extricating himself from preoedipal ties and developing to independence (stable identity, object-constancy). The conflict which is borne out by the main character and by various subordinate figures (among them the author himself) results from the struggle of the sense of reality against symbiotic regressive tendencies. The »Strudlhofstiege« symbolizes a relationship without loss of self as opposed to separation anxiety and twin phantasies. The conflicts and attempts at solution developed by Doderer in poetic categories are retraced by Dettmering with the help of psychoanalytic terms and theories.
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