Ann Leckie gelang mit ihrem Debütroman »Die Maschinen« ein besonderes Kunststück: Die Science-Fiction-Erzählung gewann neben dem Hugo-Award auch den Nebula-, den Arthur C. Clarke-, den BSFA- und den Locus-Award. Bis heute ist dies der einzige Roman, der das Trio aus Hugo, Nebula und Arthur C. Clarke hat gewinnen können. Auch ihre nachfolgenden Romane wurden mit zahlreichen Nominierungen und Preisen überhäuft, so dass jede neue Veröffentlichung mit großer Begeisterung erwartet wurde. Umso größer die Überraschung, als Leckie mit dem »Rabengott« High Fantasy schrieb.
In einer Welt, in der kleine und große Götter Kraft aus den Gebeten der Menschen ziehen, ziehen einige von ihnen in den Kampf gegeneinander, um noch mächtiger zu werden.
Doch diese Kämpfe haben einen Preis, denn die Worte der Macht, mit denen sich Menschen und Götter zum gemeinsamen Nutzen verbinden, können schwerwiegende Folgen haben.
Der Rabengott von Vastai hatte die Götter von Ard Vusktia nach Jahren der Auseinandersetzungen besiegt, um die in Iraden lebenden Menschen zu beschützen, im Gegenzug für ihren Glauben. Vom jeweils mächtigsten Mann in diesen Landen, dem Statthalter, fordert er ein zusätzliches, Opfer. Ein Opfer, das vor kurzem hätte erbracht werden sollen, aber nicht geleistet worden ist. Als man den Raben befragt, was dies nun bedeutet, gibt es nur eine kurze Antwort: »Es wird eine Abrechnung geben.«
Was auf den ersten Blick wie eine Hommage aus fantastischer Ferne an Shakespeares »Hamlet« wirkt, ist eine eigenständige, in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Geschichte. Sicher, der König und Statthalter des Raben ist verschwunden, sein Bruder Hibal hat die Macht an sich gerissen, und Mawat, der rechtmäßige Thronfolger und Sohn des Statthalters, ist außer sich vor Wut und in Sorge um seinen Vater. Unterstützt von seinem Diener, dem Krieger Eolo, versucht Mawat aufzudecken, was mit seinem Vater geschehen ist, um doch noch zum Statthalter des Raben zu werden.
Und natürlich könnte man sich auf die Suche nach Figuren wie Ophelia oder Rosenkrantz und Güldenstern machen, aber der »Rabengott« geht über den Rahmen dieser tragischen Geschichte hinaus. Ob es sich um die faszinierend ungewöhnliche Perspektive handelt, um geheimnisvolle Individuen oder mythologische Hintergründe, die eben nicht den oftmals typischen Geschichten der High Fantasy mit ihren griechisch-römischen oder altnordischen Vorlagen entsprechen, der »Rabengott« scheint … anders zu sein.
So müssen die Götter in dieser Geschichte die Wahrheit sprechen, wenn sie ihrer Macht Ausdruck verleihen wollen. Und sie sind an diese Worte gebunden, auch auf die Gefahr hin, zum Opfer eben dieser Worte zu werden, wenn diese ihre eigene Macht übersteigen.
Da sie sich dieser Gefahren bewusst sind, wagen sich nur wenige Götter, deutliche Worte zu finden, und ihre menschlichen Priester müssen ihre häufig geheimnisvollen, schwer zu entziffernden Äußerungen interpretieren, ohne sich je sicher sein zu können, dass sie die volle Wahrheit vor sich haben.
Leckie gelingt es in einem für dieses Genre unüblich kurzen Roman eine komplexe Erzählwelt zu erschaffen, bei der man sich ständig fragt, warum die Dinge geschehen, wie sie geschehen, und wer oder was hinter den Geheimnissen steckt.
Wenn man dann noch bedenkt, wie wunderschön das Buch gestaltet ist, dann sollte es viele Liebhaberinnen und Liebhaber finden. Eine rätselhafte, wilde Erzählung, bei der man vielleicht einen Kritikpunkt anbringen müsste – sie hätte gerne länger sein dürfen.
Von Marcel Aubron-Bülles