Es ist beinahe Mitternacht. In wenigen Minuten wird ein neues Jahr geboren. Draußen ist es bitterkalt und die Schenke im Herzen von Chernograd ist zum Bersten gefüllt. Es herrscht eine angespannte Stimmung – niemand scheint glücklich über den anstehenden Jahreswechsel zu sein. Denn in Chernograd – der Stadt hinter der Mauer – stehen die Schmutzigen Tage bevor. Dabei handelt es sich um die zwölf Tage zwischen 0 Uhr in der Neujahrsnacht und dem ersten Hahnenschrei am Jordanstag. Während dieser Zeit bewegen sich Monster, Gespenster und Geister frei in der Stadt.
Als Hexe hat Kosara viel Übung im Kampf gegen die gefährlichen Fabelwesen, die in jeder Neujahrsnacht über ihre Stadt herfallen. Sie weiß, dass die beste Verteidigung gegen die kleinen, bösartigen Karakonjul das Aufgeben eines Rätsels ist. Und um zu verhindern, dass ein Mensch als Upir – dem ruhelosen Geist eines Toten – wieder aufersteht, sollten unbedingt die nötigen Beerdigungsrituale eingehalten werden. Der Bund der Hexen und Hexenmeister hat aus diesem Anlass einen praktischen Leitfaden erstellt. Dieses Schriftstück enthält Wissenswertes über jedwede Art von Monstern – vom gemeinen Upir bis zur grausamen Samodiva. Die Autorin dieses Artikels weist dringend darauf hin, dass sich potenzielle Gäste Chernograds das dort vermittelte Basiswissen aneignen, um den Monstern gar nicht erst zu begegnen.
Doch es gibt ein Monster, das Kosara nicht besiegen kann: den Zmey, auch bekannt als der Zar der Monster. Wenn er über Chernograd kommt, nimmt er üblicherweise die Gestalt eines schönen Mannes mit strahlend blauen Augen und goldenem Haar an. Besonders gefährdet sind junge Frauen, die sich auf gar keinen Fall von seiner charmanten Art einwickeln lassen sollten, denn, bringt der Zmey seine Auserwählte erst in seinen Palast und heiratet sein Opfer, ist dieses spätestens nach vierzig Tagen tot. Kosara ist diesem übermächtigen Wesen als einzige je entkommen. Ihre Flucht hat ihn wütender denn je gemacht und er beginnt die Hexe unerbittlich zu jagen.
Die Handlung beginnt damit, dass Kosara in der Neujahrsnacht beim Kartenspiel fast ihren Hexenschatten an einen Fremden verliert. Ihr Schatten ist die Quelle ihrer magischen Kräfte und sein Verlust wäre verheerend für sie. Dieser Vorfall führt Kosara vor Augen, dass der Zmey ihr dicht auf den Fersen ist. Angesichts der drohenden Gefahr bleibt ihr nur eine Möglichkeit: Sie muss ihren Hexenschatten gegen eine illegale Passage über die Mauer zur benachbarten Stadt Belograd eintauschen, wo sie hofft, vor dem Zmey in Sicherheit zu sein.
Nach ihrer Flucht nach Belograd scheint Kosara das Schlimmste überstanden zu haben. Zwar können ihr die Monster zunächst nicht folgen, doch schon bald beginnt sie an einer tödlichen Krankheit zu leiden, die schattenlose Hexen heimsucht. Die einzige Möglichkeit, die Krankheit aufzuhalten, besteht darin, ihre verlorene Zauberkraft zurückzugewinnen. Um ihren Schatten zurückzubekommen, muss Kosara sich mit einem verdächtig aufrechten Ermittler zusammentun. Diese Zusammenarbeit stellt für die schattenlose Hexe eine große Herausforderung dar, da sie eigentlich eine Abneigung gegen die Polizei und deren Ordnungshüter hat. Doch wenn sie überleben will, bleibt ihr keine andere Wahl, als mit Asen gemeinsame Sache zu machen.
Die Konfrontation zwischen dem Zmey und Kosara wird unausweichlich. Die Geschichte steuert auf einen Höhepunkt zu, in dem die Hexe alles riskieren muss, um ihren Hexenschatten zurückzubekommen und den Zmey zu besiegen. Dabei wird sie mit ihrer eigenen Vergangenheit und ihren tiefsten Ängsten konfrontiert.
In Geschichten, Sagen und Märchen tauchen sie in verschiedensten Gestalten auf – mal als weise Frauen, mal als gefährliche Verführerinnen, manchmal auch als mächtige Beschützerinnen oder düstere Antagonistinnen. Hexen symbolisieren die Verbindung zur Natur und Magie, sie stehen an der Schwelle zwischen der bekannten rationalen und einer verborgenen, mystischen Realität.
Die Autorin Genoveva Dimova wurde in Bulgarien geboren und nimmt in ihren Geschichten Elemente der slawischen Mythologie auf. »Tage einer Hexe« greift auf ein reiches kulturelles Erbe zurück und die Erzählung verbindet gekonnt Altes mit Neuem und zeigt, wie uralte Mythen und Legenden immer wieder neu interpretiert und belebt werden können. Dimova baut eine faszinierende Welt auf, die sowohl vertraut als auch fremdartig wirkt. Zwar ist die Atmosphäre durch die ständige Bedrohung der verschiedenen Arten von Monstern spannungsgeladen und es kommt die Frage auf, wie die Bewohnenden von Chernograd es überhaupt schaffen auf die Straße zu gehen, doch gleichzeitig begegnen uns die alltäglichen Sorgen einer modernen Gesellschaft. Dieser Kontrast verleiht der Geschichte eine ganz besondere Dynamik.
Kosara ist eine starke und vielschichtige Protagonistin – vor allem aber ist sie nahbar. Sie strauchelt, trifft schlechte Entscheidungen, ist – während sie in das eine oder andere Fettnäpfchen tritt – unglaublich sympathisch und verfügt über eine gehörige Portion schwarzen Humor. Ein weiterer Aspekt ist Kosaras Zusammenarbeit mit Asen, dem Ermittler, der so gar nicht in die übernatürliche Welt zu passen scheint – zumindest auf den ersten Blick. Diese, nicht unbedingt freiwillige Partnerschaft, fügt der Handlung eine zusätzliche Ebene hinzu, die für überraschende Wendungen sorgt.
»Tage einer Hexe« ist ein vielversprechendes Fantasy-Debüt, das mit einem stimmigen Weltenbau, einer fesselnden Handlung und besonderen und liebevoll ausgestatteten Figuren zu überzeugen weiß. Genoveva Dimova liefert eine Geschichte ab, die sowohl Fans von düsteren Märchen als auch Liebhaber von Urban Fantasy begeistern wird – und natürlich alle, die von Hexen und ihren Geschichten fasziniert sind und nicht genug von ihnen bekommen können. Bleibt zu hoffen, dass dies nicht das letzte Abenteuer aus ihrer magischen Feder sein wird.
Von Alexandra Rump