San-Er in Talin, eine Hauptstadt wie eine Festung. Regiert wird sie von den Erd- und Himmelspalästen – in beiden ist jedoch schon lange nichts mehr von ihrem ehemaligen Glanz zu spüren. Die Mauern und Häuser der Stadt sind so hoch, dass kein Sonnenlicht bis auf den Boden durchdringt. Bedrückend, einengend, so voller armer, verschuldeter Menschen und für niemanden einen Weg nach draußen. Das Leben außerhalb der Mauern ist meist auch nur ein kleineres Übel.
Wie hält man eine solch eingepferchte Bevölkerung bei Laune? Jedes Jahr aufs Neue organisiert der Erdpalast blutige Spiele, aus denen nur eine Person glorreich hervorgehen kann. Auf alle anderen wartet der Tod. Spiele, deren Schauplatz die gesamte Stadt ist, rund um die Uhr beobachtet durch die unzähligen Überwachungskameras, die in den Straßen und Häusern von San-Er verteilt sind. Umso blutiger die Kämpfe zwischen den Spielern, desto mehr Freude für die Schaulustigen, denn die Fähigkeit zwischen Körpern hin- und herzuspringen, nur den eigenen Geist mitzunehmen, ist weitverbreitet und für viele Teilnehmer oft die einzige Überlebenschance. Von vielen der Bevölkerung sind diese Sprünge heiß ersehnt, denn wird der eigene Körper bei den Spielen verletzt, winken Entschädigungen durch die Regierung.
Einst war Calla Tuoleimi eine Prinzessin, nun wird sie im ganzen Land totgeglaubt, nachdem sie ihre Eltern umgebracht und damit dem Himmelspalast ein Ende gesetzt hat. Sie will das Regime und die damit verbundene Unfreiheit des Volkes durch den Sturz ihres Onkels, den Herrscher des Erdpalastes, beenden. Die einzige Möglichkeit, nah genug an ihn heranzukommen ist an den Spielen teilzunehmen. Der Plan zu gewinnen und am Ende ihrem Onkel gegenüberzustehen und ihn zu ermorden, ist fest in ihr manifestiert.
Bei ihrem Vorhaben fallen ihr zwei unvorhergesehene Allianzen in die Hände. Ihr Cousin August, der selbst auch seinen Stiefvater fallen sehen möchte und ihr anbietet für sie die Spiele so zu manipulieren, dass sie ihr Ziel erreicht. Und Anton, der hoch verschuldet in den Kampf zieht, weil er auf den Sieg und das damit verbundene Preisgeld hofft, um die Krankenhausrechnungen seiner im Koma liegenden Jugendliebe abzudecken. Denn außer ihm haben alle die Hoffnung um sie aufgegeben. Beide verfolgen ihre eigenen Ziele und Calla scheint nur ein Mittel zum Zweck zu sein. Sie lebt in ständiger Vorsicht und Anspannung, in keiner Sekunde in der Sicherheit, dass diese beiden Allianzen ihr nicht imnächsten Moment in den Rücken fallen könnten.
Unverhofft sind auch die Gefühle, die Calla für Anton während ihrer Zusammenarbeit entwickelt. Es sind neue und ungewollte Gefühle für Calla, die Anton erwidert. Gefühle, die die Entscheidung der Spiele und Callas Pläne beeinflussen und durchkreuzen könnten.
Wer Chloe Gong kennt, weiß, dass sie es liebt sich für ihre Bücher durch William Shakespeare inspirieren zu lassen. Ihr Debüt »Welch grausame Gnade« ist eine Nacherzählung von »Romeo und Julia«, platziert im Shanghai der 1920er Jahre. Sie lässt ihre Liebe zur Literatur und ihre chinesischen Wurzeln in ihre Bücher einfließen und darin verschmelzen. So ist es keine Überraschung, dass auch »Immortal Longings« von Shakespeare und China inspiriert ist.
San-Er existiert, wenn man so will, nicht nur in Chloe Gongs fantastischer Welt, sondern hat auch ein reales Vorbild. Die chinesische Stadt Kowloon, die Teil von Hongkong ist und ursprünglich von China als Militärfort gegründet wurde, war im 20. Jahrhundert zwischen China und der britischen Besetzung hin- und hergerissen und so dicht bevölkert, dass die Straßen zu Gassen wurden und auch hier kaum Sonnenlicht bis auf den Grund schien. Chloe Gong sagt selbst über Kowloon: »Im Grunde gab es in dieser Stadt keine Gesetze: Die chinesische Polizei kam nicht hinein und die Briten scherten sich nicht darum, was zu den gefährlichen Lebensumständen dort führte.« Steigt man mit diesem Wissen in die Lektüre von »Immortal Longings« ein, fühlt sich die Welt noch etwas bedrückender und bedrängender an. Chloe Gong zeichnet ein Bild mit ihren Worten, das einem das stetige Gefühl von überragenden Gebäuden wie Festungen verleiht und lässt die Leser*innen aufatmen, wenn die Charaktere sich auf den Dächern der Stadt wiederfinden, wo endlich wieder Sonne scheint.
Callas und Antons Beziehung ist inspiriert von Shakespeares Figuren Antonius und Cleopatra, die im gleichnamigen Theaterstück in einer stetigen Besessenheit und Abhängigkeit voneinander leben. Die Gefühle der beiden »Immortal Longings« Protagonist*innen sind in einem Wirbelsturm des Umschwungs gefangen. Während sie im einen Moment nicht ohne einander können und die gegenseitige Nähe suchen, ist im nächsten Moment die Paranoia zurück. Verrat liegt in der Luft und beim Lesen wird einem immer wieder klar: Das hier kann nicht gut ausgehen. Beide sind zu sehr auf ihre eigenen Ziele fokussiert und trotzdem brodelt zwischen den Zeilen immer das Gefühl, dass sie füreinander vielleicht alle Pläne umwerfen könnten.
Mit Calla hat das Buch eine starke Protagonistin, die schon viel durchlebt hat und sich auch nicht von Rückschlägen zurückhalten lässt. Sie weicht nicht vor Kämpfen zurück und ist immer auf das große Ganze bedacht, stellt ihre eigenen Bedürfnisse zurück, um den Menschen von Talin ein besseres Leben zu ermöglichen. August ist im Gegensatz dazu egoistischer, verfolgt vor allem sehr bedacht seine eigenen Ziele und nimmt sich dabei, was immer er braucht. Sein Stammkörper ist unerreichbar und so lebt er von Tag zu Tag in Körpern, die ihm den meisten Erfolg für den Moment bringen. Bevor sich Anton und Calla überhaupt kennenlernen, haben sie aber schon eine Sache gemeinsam: August. Als Stiefsohn des Herrschers könnte August das Leben in vollen Zügen genießen, aber er will mehr. Ähnlich wie Calla will er Freiheit für die Bevölkerung und hält diese aber nur für möglich, wenn er selbst auf dem Thron sitzt. Dass seine Cousine für ihn seinen Stiefvater aus dem Weg räumt, ist die perfekte Gelegenheit seine Pläne ins Rollen zu bringen. Dass sie gemeinsame Sache mit seinem misstrauten Freund aus der Jugend macht, ist ihm dabei jedoch ein ziemlicher Dorn im Auge.
Drei Protagonist*innen, die polarisieren und sich immer wieder gegenseitig in die Quere kommen – die perfekte Mischung für eine explosive Storyline, die mit »Immortal Longings« erst ihren Anfang nimmt.
»Immortal Longings« ist der Auftakt einer neuen Trilogie der Autorin, die regelmäßig zehntausende von Views und Likes mir ihrem TikTok-Kanal sammelt, auf dem sie von ihren Büchern und ihrem Leben als Schriftstellerin berichtet. Die Plattform liebt ihre Bücher und wartet sehnsüchtig auf neuen Lesestoff von der 25-Jährigen.
Chloe Gong schrieb mit ihren ersten Werken Bücher, die im Young Adult-Bereich angesiedelt sind und sich vor allem auch auf die Beziehungen zwischen den Charakteren konzentriert haben. Nun verleiht sie ihrem Können mit diesem Buch eine ganz neue Stimme und eröffnet sich damit den Zugang zum All-Age-Bereich. Wer es nicht besser weiß, könnte meinen, dass ihre Welten aus zwei unterschiedlichen Federn stammen. Sie kennt die Genres und weiß, welche Stimmen und Emotionen die Leser*innen darin erwarten. Sie macht sich zu einer literarischen Persönlichkeit, die man auf jeden Fall im Auge behalten sollte.
»Immortal Longings« vereint historische Fantasy mit modernen Science-Fiction-Einflüssen. Daraus ergibt sich ein außergewöhnliches Leseerlebnis. Großartig übersetzt von Elena Helfrecht, sprüht dieser Roman vor Spannung und unvorhergesehenen Wendungen. Man möchte fast meinen, man liest hier ein »Hunger Games« für Erwachsene: Ein Spiel, bei dem nur eine*r überleben kann, um dadurch Ruhm und Ehre zu erlangen. Und ein politisches System, das zum Scheitern verurteilt ist und überworfen werden soll und muss. Jedoch sind die Machtspiele in »Immortal Longings« um einiges komplexer und auf eine ganz besondere Art und Weise bedrückend.
Wer rasante Fantasy liebt, die nicht zu lang um den heißen Brei herumredet und die Storyline stetig vorantreibt, wer ein Buch sucht, das man nicht mehr aus der Hand legen kann, wird an »Immortal Longings« große Freude finden und am Ende sofort beginnen die Tage herunterzuzählen, bis endlich der zweite Band der Reihe erscheint.
Von Anni Luzius