Vier Milliarden Smartphones mit steigender Tendenz haben das Leben auf diesem Planeten verändert. Die meisten ihrer Besitzer mögen nicht, dass man sie oder gar ihr Smartphone kritisch anguckt, kann das Wundergerät doch einfach alles (vgl. S. 20-22): Surfen, Fotos aufnehmen, Videos drehen, Fahrpläne angucken, kaufen, speichern und vorzeigen. Man ist über den Blutzuckerspiegel des Partners überall informiert; man braucht nie wieder jemanden nach dem Weg zu fragen; Karten braucht man auch nicht, das Smartphone sagt einem ja, wo man ist, und wie man woanders hinkommt. Auch online kann man Zuhause nach dem Rechten sehen, die Heizung an- und ausstellen, Licht nach Gusto hier und dort einschalten, den Staubsauger starten. Das ganze Leben wird organisiert, man braucht nur noch die richtige App zum richtigen Zeitpunkt, aber die Bildung, die Gesundheit und überhaupt wir bleiben dabei auf der Strecke, meint Manfred Spitzer in seinem Buch »Die Smartphone-Epidemie« und erklärt die Smartphone-Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft.
Immer wieder belegt er seine Thesen mit Studien oder zitiert Studien und leitet daraus seine Thesen ab. In den Fußnoten stehen die Fundstellen und Stichproben bestätigen das Gesagte. Eine Zusammenfassung fehlt, an deren Stelle kann man das 15. Kapitel „Werden wir dümmer – Der Flynn-Effekt im Rückwärtsgang“ lesen. James Flynn beschrieb das Phänomen des stets steigenden Intelligenzquotienten. (S. 307) Nach 2000 scheint diese Entwicklung einen Rückwärtsgang eingelegt zu haben: S. 312 ff. Genetische Faktoren und Messfehler scheiden als Gründe aus, bleiben noch die Umwelteinflüsse, zu denen Spitzer „die Qualität der Schulen und de[n] Medienkonsum“ zum Nachteil des IQ zählt. Derartige Vorwürfe werden vorsichtig vorgetragen, wiegen sie doch schwer, aber Spitzer kann sich auf die Argumente seines Buches stützen.
Suchtgefahr, Depressionen, steigende Suizidalität unter Frauen in den USA mit zunehmender Verwendung der digitaler Medien, vgl. S. 16, Bewegungsmangel mit allen Folgen, Schäden für die Bildung; je mehr Geld für die digitale Bildung ausgegeben wird, um so schlechter sind die Leistungen der Schüler/innen, Radikalisierung durch YouTube. Es ist ein Horrorgemälde, das Spitzer zeichnet. Während die Politikern die Digitalisierung als Grund zum Geldausgeben verstanden, warnt Spitzer vor dem zu frühen Blick aufs Smartphone der Kleinen und beklagt, dass die sie schon ständig immer länger draufgucken dürfen.
„Haltungsschäden und Übergewicht, Depressionen und Ängste, vermehrte Ablenkung und vermindertes Lernen“ S. 20 sind die Folgen der digitalen Informationstechnik, zu denen Schlafstörungen (S. 25), „Diabetes, Bluthochdruck und koronare Herzkrankheit“ (S. 27 ff.) und seelische Störungen (vgl. S. 28 ff.) hinzukommen.
Spitzers Urteil „Smartphones beeinträchtigen durch ihre pure Präsenz unmittelbar das Denkvermögen und senken die Intelligenz eines Menschen“. (S. 31) Er spricht von digitaler Demenz (vgl. S. 35 f.) und warnt vor dem Fehlen der Empathie (S. auch S. 129 ff.) bis hin zu ganz realen Bedrohungsszenarien für unsere Demokratie. Das Smartphone als „Ersatz von realen sozialen Begegnungen durch Bildschirme und Lautsprecher “ S. 39 macht ihm besonders Sorgen.
Jedes der folgenden Kapitel vertieft die Bedrohungen der Online-Welt: 2. Kurzsichtig wegen Mangel an Weitsicht mit allen weitreichenden Folgen für die Sehfähigkeit, 3. Smartphone-Denkstörung mit der Selektiven Aufmerksamkeit: Spitzer geht es hierbei um die begrenzte Multitaskingfähigkeit des Menschen, die dieser mit jedem Blick auf sein Smartphone auf die Probe stellt, besonders, wenn er im Auto nicht von WhatsApp lassen kann.
4. Eltern und Smartphones. Das schlechte Vorbild der Eltern beeinträchtigt längerfristig das Verhältnis zu ihrem Nachwuchs. 5. Sag mir wo die Blumen sind. In diesem Kapitel beklagt Spitzer zu Recht das Vordringen allein schon des Vokabulars des neumodischen Webs 2.0 zum Nachteil der Natur.
6. Bildung: „Je mehr Freizeit ein Schüler mit digitalen Medien verbringt, desto schlechter ist er in der Schule, wie eine Reihe von Studien belegen,“ (S. 114). Die Gefahr der Aufmerksamkeitsstörung(en) haben wir schon genannt, jetzt rückt die „Oberflächlichkeit“ in den Blick: „die gedankliche Tiefe der Bearbeitung des Materials für das Behalten entscheidend ist.“ (S. 115) Das kann man nachvollziehen, es ist die mangelnde Aufmerksamkeit, die fehlende Konzentrationsfähigkeit der Schüler/innen, die das Unterrichten erschwert:
7. Smartphone – Depression. Dieses Kapitel nennt alle Folgen des Umgangs mit sozialen Netzwerken, wozu auch die Frage nach der Wahrheit der mitgeteilten Meldungen gehört. Die Gefahr der raschen Verbreitung von Falschmeldungen ist hoch. Überhaupt man kann ja auch oft nicht einfach zwischen falsch und wahr unterscheiden, womit gleich klar wird, dass Differenzierungen online einfach eingeebnet werden, es gibt nur dies und das, die Beurteilung und Interpretation von Fakten überlassen manche gerne der kollektiven Intelligenz. Die Masse wird es schon richten, die Folgen kannten schon die Breiköche. Die Smartphonewunder machen also krank und wir kriegen dann auch gleich die richtigen Gegenmaßnahmen in Formen immer neuer Apps. (vgl. S. 145 ff.). Die Überschriften der Abschnitte „online macht junge Menschen einsam“ (S. 168) und „‚Ich'“ statt „‚wir'“ (S. 172) sagen schon alles. – Mir ist keine Situation bekannt, in der mir bei den vielen nachmittäglichen Fahrradtouren mit Freunden rund um Köln jemals ein Smartphone gefehlt hätte.
Und wie steht es um die 8. Einsame[n] Singles? Viele lassen ihr Smartphone nie aus den Augen. Es könnte ja laut geben: 9. Phantom-Vibration (S. 185 ff.).
Jetzt wird es ernst: 11. Postfaktisch – Die intellektuelle Verwahrlosung. Dieses Kapitel ist zu knapp geraten. Hier hätte ich noch mehr über Wikipedia und über die schon oben genannte Kollektive Intelligenz gelesen. Im übrigen dürfen meine Studenten Wikipedia nur nutzen, wenn sie über Wikipedia etwas schreiben würden. Im Abschnitt Suchmaschinen fällt die schöne Formulierung die „Abgabe der informationstechnischen Sebstbestimmung“, das heißt meine Studenten googeln erstmal und klagen dann, dass es zu Balzac „leider nichts gibt“. Das muss man sich mal vorstellen: alle Welt googelt und akzeptiert stillschweigend, dass irgendein Algorithmus ihnen das Ordnen des Suchergebnisses abnimmt. Diese Ordnung der Welt hat fatale Folgen und passt zur Überschrift dieses Abschnitts. Und es gibt einschlägige Angebote auf Twitter und nicht nur dort, die in ihren Tweets Begriffe aus dem Schulleben aufnehmen (abgerufen – nein gesehen am 18.9.2018 trotz Ausblendung sensibler Inhalte) , um sich auf diese Weise Sichtbarkeit in den Suchergebnissen zu erschleichen : die wollen wir hier gar nicht sehen und auch nicht dort hinführen, unsere Suchstichworte und die Ergebnisse bleiben unter Verschluss.
12. Digital disruptiv: Dysfunktional und destruktiv. Wer sich nicht rechtzeitig digitalisiert wird abgehängt, klagen Bildungsforscher und warten auf Geld, bevor man weder weiß, was man damit macht, noch bevor man die Folgen der erhofften Digitalisierung kennt. Man vermutet Lernerfolg, weil ja Geld in die Hand genommen wird. Mit der entsprechenden Empfehlungs-Literatur geht Spitzer sehr hart ins Gericht: s. dort. Und überhaupt: „Wirtschaftliche Umwälzungen haben schon immer Gewinner und Verlierer hervorgebracht, aber noch nie haben sich die Gewinner so dreist aufgeführt wie die Profiteure von digitaler Informationstechnik mit ihrer Rede von Disruption. Sie verbreiten damit Angst, was sich auf die Fähigkeit zum Nachdenken dysfunktional und auf Vertrauen und Mitmenschlichkeit destruktiv auswirkt.“ S. 251 – Spitzers Klagen sind nicht unberechtigt, aber es gibt auch positive Beispiele, wie die Untersuchung > Jules Ferry 3.0 zum Nutzen Digitaler Medien im Unterricht zeigt, der 80 % Pädagogik und ein bisschen Technik bietet. Und meine Schüler/innen würden sehr wohl mit Twitter arbeiten, auch wenn sie das bitte schön zu Hause machen sollten, damit wir im Unterricht mehr Zeit für ausführliche Gespräche haben: > Lernen mit den Aufgaben auf unserem Blog – 6. September 2018.
13. Digitalisierung macht Angst. Jetzt beleuchtet Spitzer das bisher Gesagte noch einmal aus der Perspektive der Angst. Die kleinen Helfer mit ihrer totalen Wohnungsüberwachung sind alles andere als Freunde, aber doch mehr als eine Modererscheinung. – In der Schule spricht man vom „Ende der Kreidezeit“ (S. 261), ganz so als ob sich Panik breit machen würde und Schüler/innen künftig nur noch digital beschult werden könnten. Vor derlei Aktionismus will Spitzer nachdrücklich warnen. Denn es ist ja gar nicht ausgemacht, dass Tablets, Smartphones etc. zu besseren Lernerfolgen führen. Schon bei der Wahl des Schreibmittels wird es kompliziert: Die Gretchenfrage: > Tastatur oder Füller? – Frankreich-Blog, 31. Juli 2015. In meinem Unterricht müssten Schüler/innen eine PC-Führerschein erwerben: 3-4 Seiten mit Füller schreiben, um einen guten Gedanken zu entwickeln – und dabei nur wenig verbessern. Gelingt diese Konzentrationsübung, dürfen sie an den PC. Möglicherweise brauche ich dann kein Geld für Tablets. Der Schulalltag sieht heute anders aus, Politiker profilieren sich mit sogar wohlgemeinten Digitalisierungsschüben und kaum jemand weiß, wo die Reise hingehen könnte. Was treibt ist eine Angst, man könnte was verpassen.
14. Geschäftsmodelle: Werbung und die Folgen… (S. 267 ff). Wer auf Facebook guckt sieht, hat einschließlich der Hinweise auf die Aktivitäten andere rund 70% Werbung im Blick. Dafür bezahlt er nichts, doch! Er bezahlt mit Aufmerksamkeit und in direkt mit seiner Neugier, was sich seit dem letzten Blick auf sein Netzwerk dort getan hat. Die klassische Werbung ist im Rückzug, aber heute ist die Werbung immer erfolgreicher, weil sie ihre Pappenheimer immer besser kennt. Twitter und die anderen sozialen Netzwerke lernen uns besser kennen als unsere virtuellen Freunde. Zielgenau personalisierte Werbung geht in Manipulation über, da muss sich kein Nutzer wundern, wenn er einmal da und dort etwas in einem Online-Shop angeguckt hat, wenn ihn dann das Produkt auf ganz anderen Seiten verfolgt. Dieses Tracking ist doch genauso fies wie das Drängeln bei 170 auf der Autobahn.
Wie oft haben Sie bei der Lektüre dieses Artikels auf Ihr Smartphone geguckt? Kein Mal? Dann gefällt Ihnen das Buch. Mehrmals? Dann haben Sie sich über Spitzers Thesen geärgert. Vielleicht aber auch zu Unrecht. Im Gegensatz zu früheren Büchern, spricht er seltener von Untersuchungen, wenn sind sie gut nachprüfbar – und manchmal kann man ihm eine selektive Wahrnehmung nachsehen, wir freuen uns doch alle, wenn wir in der Zeitung einen Artikel finden, der das sagt, was wir schon immer glaubten.
Heiner Wittmann
Manfred Spitzer, Prof. Dr. Dr., geboren 1958, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg. Von 1990 bis 1997 war er als Oberarzt an der Psy...
Manfred Spitzer, Prof. Dr. Dr., geboren 1958, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie in Freiburg. Von 1990 bis 1997 war er als Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg tätig. Zwei Gastprofessuren an der Harvard-Universität und ein weiterer Forschungsaufenthalt am Institute for Cognitive and Decision Sciences der Universität Oregon prägten seinen Forschungsschwerpunkt im Grenzbereich der kognitiven Neurowissenschaft und Psychiatrie. Seit 1997 hat er den neu eing...
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