Blogbeiträge sollen relativ kurz sein. Unsere Redaktion würde dieses Gebot gerne wahren, sich aber dann die Freiheit herausnehmen, mehrere Beiträge zu »Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929« von Wolfram Eilenberger zu verfassen, das geht aber auch wieder nicht, da der Stapel der Neuerscheinungen auf seine Leseberichte wartet.
Die Philosophen Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger prägten die Jahre 1919-1929. Jeder von ihnen hat ein anderes Schicksal, und dennoch zeugen ihre Gegensätze und Gemeinsamkeiten von einer Epoche unvergleichlicher geistiger Kreativität. Wolfram Eilenberger legt mit dem Band »Zeit der Zauberer« einen spannenden Einblick in das „Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929“ vor. In bemerkenswerter und überzeugender Weise verknüpft er diese Einzelschicksale, kurze und einfühlsame Biographien mit dem geistigen, philosophischen Schaffen der genannten Philosophen in diesem Band. Die Geschichte der Philosophie mit ihren offenen Fragen aber auch das Privatleben haben den wissenschaftlichen Weg dieser Philosophen bereitet.
Selbst diese Spitzenkräfte hatten es schon in dem damaligen Universitätsbetrieb nicht leicht eine Stelle zu finden, auf der sie sich der Lehre und Forschung hätten widmen können. Den einen gelingt es, andere müssen draußen bleiben, weil der Horizont derjenigen, die ihnen den Zugang verwehren, nicht ausreicht. Und schon beginnt der latente Antisemitismus virulenter zu werden. Sogar Wissenschaftler denken zuerst nach, ob jemand Jude ist, bevor sie sich mit der Sache beschäftigen.
Die so unterschiedlichen Karrieren der oben genannten Philosophen sind wie in einem Cross-cutting oder einer Parallelmontage miteinander verknüpft, wobei die dabei entstehenden Gegensätze die Entwicklungen aufzeigen, die jeder von ihnen zu dem beisteuert, was man einen gemeinsamen Erkenntnisprozess nennen könnte. Natürlich waren sie sich einander Konkurrenten, aber genau das dokumentiert Eilenberger so vorzüglich, die Art und Weise, wie sie Antworten auf ähnliche Fragen erarbeiten und anbieten. Stille, Zurückgezogenheit aber auch aufregende erotische Abenteuer bestimmen ihre Arbeitsatmosphäre. Ein Höhepunkt ist ganz sicher die Szene, die in diesem Buch am Anfang geschildert wird, wie Ludwig Wittgenstein am 18. Juni 1929 sein Rigorosum in Cambridge ablegt und seinen Prüfern auf die Schulter klopft: „Macht euch nichts daraus, ich weiß, ihr werdet das nicht verstehen.“ (S. 20) Er meint es, wie er es sagt. Das stört ihn auch gar nicht. Wittgenstein weiß um die wenigen happy few, die glauben, etwas Ahnung von seinem Tractatus logico-philosophicus zu haben. Oder dokumentiert Wittgenstein in diesem Werk, dass manches oder gar sein Buch einfach nicht verständlich ist?
Und einige Wochen später findet in Davos die Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer statt: das „einschneidendes Ereignis in der Geschichte des Denkens“. Eilenbergers Darstellung, Bericht über das Jahrzehnt der Philosophie mit ihren Höhen und Tiefen steuert auf dieses Großereignis, in dem die beiden Leitfiguren der Philosophie ihre Antworten und Konzepte auf die Frage „Was ist der Mensch?“ vortragen. Diese Frage wurde auch vor dem Hintergrund der Entwicklung der Weimarer Republik gestellt. Cassirer versteht den Menschen als ein Wesen, das Zeichen hervorbringt; Heidegger widerspricht nicht im Prinzip fügt aber als eigentliche Grundlage des individuellen Gefühls die Angst hinzu – ganz so, wie Sartre 1943 in Das Sein und Nichts anmerken wird, dass die absolute Freiheit auch Angst machen kann. Heidegger gewinnt den Disput, gegenüber Cassirer, der mit einer schweren Erkältung zu kämpfen hat. Der nächste Philosoph wird von Eilenberger geschickt eingeführt: „Wo ist Benjamin?“ „… ein perfekter Hybrid aus Heidegger und Cassirer“ wäre er gewesen, wäre er nur auch nach Davos geladen worden. Eilenbergers Buch ist auch eine Geschichte der verpassten Chancen? Wäre es der Republik besser ergangen, wenn die Philosophen die Ergebnisse ihres Denkens alle in einem institutionell gefestigten Rahmen hätten entwickelt werden können? Da fällt unserer Redaktion ein Buch ein, das das Versagen der heutigen Universitäten in den Blick nimmt > Lesebericht: Wolf Wagner, Tatort Universität. Vom Versagen deutscher Hochschulen und ihrer Rettung – 9. März 2010.
Die Zusammenfassungen der Kapitel sind gerade auch für unseren Blog bestens geeignet: „II. Sprünge. 1919. Doktor Benjamin flüchtet vor seinem Vater, Leutnant Wittgenstein begeht finanziellen Selbstmord, Privatdozent Heidegger fällt vom Glauben ab, und Monsieur Cassirer arbeitet in der Elektrischen an seiner Erleuchtung.“ Benjamins Doktorarbeit „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“ definiert die „Aktivität der Kritik“ neu: Subjekt und Objekt erfahren dabei eine Transformation. (vgl. S. 49 f.) Sartre wird später in Qu’est-ce que la littérature? 1946 darauf hinweisen, dass ein Geisteswerk nur durch die Zusammenarbeit von Autor und Leser entstehen kann.
Wittgenstein überschreibt 1919 sein ganzes Vermögen seinen Geschwistern und wird Volksschullehrer. Ist es der Versuch, der (nicht verstehbaren) Philosophie endgültig zu entsagen? 10 Jahre später ist er in Cambridge zu seinem Rigorosum.
Eilenberger führt diese Philosophen immer wieder auf der Grundlage ihrer Ansätze zusammen und erläutert so das Gewicht ihrer Erkenntnisse: Benjamin wolle die Kritik dynamisieren, Wittgenstein suche die mythische Beruhigung und die Versöhnung mit der Welt, während Heidegger versuche Kriegserfahrung und alltägliches Denken miteinander zu versöhnen. Ganz radikal geht er dabei vor: Er löst die Verbindung zum Katholizismus, zu seinem Elternhaus, zu seiner Ehe, und sogar zur Phänomenologie Husserls (S. 70) Cassirer denkt ebenfalls über Autonomie und die aktive Gestaltung des eigenen Lebens nach. (S. 73) Er ist noch nicht verbeamtet, darf nicht prüfen und weiß um die schon im Krieg erfolgte „Judenzählung“ im deutschen Heer.
In Den Haag trifft sich Ludwig Wittgenstein vier Tage lang mit Bertrand Russel, um den Tractatus Satz für Satz durchzugehen.: „1. Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ (S. 91) Eilenberger schreibt hier beste Wissenschaftsgeschichte. Durch die Einbettung der Thesen in das biographische Umfeld Wittgensteins wird die Tragweite seiner so vielfältigen Ansätze bestens erkennbar, auch wenn Russel hinterher meint: „Wittgenstein ist vollends zum Mystiker geworden.“ (S. 95)
Dann kommt Philosophiegeschichte mit ins Spiel, wenn Eilenberger die Skepsis Heideggers gegenüber Descartes erläutert. Heidegger ist durch und durch Philosoph. Selbst in seine Brief an seine Frau Elfriede entwickelt er wichtige Baustein seines Denkens über die Zusammenhänge von Philosophe und Alltag.
Walter Benjamin ist aber noch mehr Außenseiter als die anderen. Er hat nun überhaupt kein Glück auf der Suche nach einem Einlass in die Universität. Er hat seinen eigenen Kopf, pocht darauf, verfolgt, was ihm gerade wichtig ist. Übersetzt Baudelaire und schreibt einen vorzüglichen Essay „Die Aufgabe des Übersetzers,“ der mit Baudelaire nichts zu hat und wodurch er den Verleger warten lassen muss. Die Sprachbetrachtung von Benjamin ähnelt den Fragen, die Wittgenstein stellt, während Cassirer genauso darüber nachdenkt aber zu anderen Schlussfolgerungen kommt. Gibt es eine Sprache, die den „verschiedenen natürlichen Sprachen selbst“ zu Grunde liegt? (S. 136)
Eilenbergers Buch ist kein Roman, aber die Kapiteltitel sind wunderbar: „IV. Bildung. 1922-1923. Heidegger ist kampfbereit, Cassirer außer sich, Benjamin tanzt mit Goethe und Wittgenstein sucht einen Menschen. Heidegger bewirbt sich in Marburg und stellt fest: „Der Gegenstand der philosophischen Forschung ist das menschliche Dasein als von ihr befragt auf seinen Seinscharakter.“ (S. 142) Und Eilenberger interpretiert die Argumente Heideggers so: „Die meisten Menschen gehen sich lebenslang lieber selbst aus dem Weg, als sich ernsthaft zu suchen.“ (S. 144) Sich treiben lassen, kein Mut, keine Aktion, keine Veränderung, das kritisiert Heidegger, der sich in seinen „Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles“ „als eine Art begriffliche Abrissbirne“ (S. 145) stilisiert, mit dem Ziel, freie Sicht zu gewinnen.
In Marburg rufen Nachbarn ihm 1922 zu, er gehöre nach Palästina. Dies steht im Kapitel „Schlechte Nachbarschaft“. Dann mit der Übersiedelung von Marburg nach Hamburg öffnen sich für Cassirer mit der Bibliothek von Aby Warburg ganz neue Perspektiven: „Gute Nachbarschaft“: Cassirer schreibt Die Begriffsform des mythischen Denkens.
Benjamin trifft sich in Heidelberg mit der Bildhauerin Jula Cohn, sie ist auch in seinen Schulfreund Erich Schön verliebt, mit dem Benjamins Gattin Dora seit 1921 liiert ist: „eine vertrackte Viererkonstellation“, (S. 166), die Benjamin in einem weiteren Anlauf seines Habilitationsprojekts mit einer Interpretation von Goethes Wahlverwandtschaften verarbeitet. Bemerkenswert, wie hier Eilenberger auf Parallelen zu den Arbeiten von Cassirer und Heidegger verweist. (S. 167) Freiheit und Schicksal werden zu den zentralen Begriffen Benjamins. (S. 169- 178 !) Die Interpretation dieser Schrift durch Eilenberger ist sehr lesenswert.
In den folgenden Jahren haben die vier Philosophen die unterschiedlichsten Erlebnisse und bleiben Ihren Lebensentwürfen auch immer auf eine gewisse Art und Weise treu: Zu dieser Zeit sammelt Wittgenstein seine Erfahrungen als (Philososphie-) Dorfschullehrer. Er findet die ersehnte Ruhe nicht und versucht Kontakt mit der akademischen Welt zu halten. Auf Capri liiert sich Benjamin mit Asja Lacis, die ihn so durcheinanderbringt, dass sein Projekt, die Habiliationsschrift zügig niederzuschreiben, brach liegt. Als Benjamin schließlich seine Arbeit abgibt, wird ihm aus Frankfurt schnell geraten, er solle sie zurückziehen, damit ihm die Ablehnung erspart bleibe: S. 236-255. Ganz anders Heidegger, der in einem wahren Schreibfuror 450 Seiten von Sein und Zeit im Rhythmus von 30 Seiten pro Woche anfertigt, um sich seien Ruf nach Marburg zu sichern: wiederum enthält Eilenbergers Buch zu beiden Werk prägnante Einführungen.
Das vorletzte Kapitel VII: Passagen. 1926-1928: Wittgenstein baut vor, Benjamin bricht durch, Cassirer wird gelockt und Heidegger kehrt heim ist der Prolog zum Ende dieses Bandes VIII. Zeit. 1929. Heidegger und Cassirer auf dem Gipfel, Benjamin schaut in den Abgrund und Wittgenstein entdeckt neue Wege. Der originellste und hartnäckigsten von den Vieren hatte es mit Abstand am schwersten, auf ihn wollte sich die akademische Welt am liebsten nicht einlassen. Der andere Querdenker, resolut und konsequent in seinen Entscheidungen, kann von der Philosophie nicht lassen, hofft doch insgeheim, dass Andere sich Mühe geben, ihn zu verstehen. Die beiden Anderen sind erst mal wohl bestallt, aber das Ende ist nahe. Cassirer verliert 1933 seinen Lehrstuhl und geht in die Emigration zuerst nach Großbritannien dann nach Schweden. Martin Heidegger hält am 24. Juli 1929 seine Antrittsvorlesung in Freiburg: Was ist Metaphysik?“ und am 1. Mai 1933 als neuer Rektor der Universität Freiburg folgt die Ansprache „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“.
Heiner Wittmann
Wolfram Eilenberger, geboren 1972, war langjähriger Chefredakteur des Philosophie Magazins, moderiert die »Sternstunde Philosophie« im Schweizer ...
Wolfram Eilenberger, geboren 1972, war langjähriger Chefredakteur des Philosophie Magazins, moderiert die »Sternstunde Philosophie« im Schweizer Fernsehen und ist Mitglied der Programmleitung der ›phil.COLOGNE‹. In zahlreichen Talkshowauftritten im Deutschen Fernsehen gibt er der Philosophie eine Stimme und ein Gesicht. Sein Buch »Zeit der Zauberer« stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste, wurde 2018 mit dem Bayerischen Buchpreis und 2019 mit dem in Frankreich renom...
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