Susan Neiman fragt stets: „Wie sollten Gesellschaften mit dem Bösen der eigenen Geschichte umgehen?“ In einem gewissen Sinne hat uns das doch Jean Améry gelehrt? Ich erinnere mich noch gut an die Stimme von Jean Améry wenn er im WDR – Am Abend vorgestellt – aus einen Werken las: Seine Aufsätze über die Bücher aus der Jugend unseres Jahrhunderts, oder an den Grenzen des Geistes mit seiner Bericht über den Intellektuellen in Auschwitz: „Ein Intellektueller, wie ich ihn verstanden wissen möchte, ist eine Mensch, der innerhalb eines im weitesten Sinne geistigen Referenzsystems lebt.“ (Gesamtausgabe Bd. 2, S. 24). Aus diesen Zeilen klingt ein wenig ein Abstand zu diesen schrecklichen Erlebnissen an, gleichwohl hat Améry diese nie verwunden? Jenseits von Schuld und Sühne, Bewältigungsversuche eines Überwältigten, daraus habe ich eben zitiert.
Jean Améry durfte doch zu Recht beanspruchen, ein Aufklärer avant la lettre zu sein?
Schlägt man das Register des Bandes 9. Materialien auf, muss einem dort auffallen, dass unter den vielen Namen Jean-Paul Sartre (1905-1980) am häufigsten von ihm genannt wird. In Amerys Umeisterlichen Wanderjahren steht ein längerer Aufsatz über Sartre, in dem er beschreibt, wie er Sartre und seinen Existentialismus nach dem Krieg entdeckt hat: „Der Existentialismus war nicht nur für ihn (J. Améry), sondern für Tausende, die sich mit ihm verschworen, die Justifikation post festum des vollbrachten Widerstandes, wie wirkungsmächtig oder elend versickernd der auch gewesen sein mochte.“ (2, 272) Sartre war in gewissem ein Wegweiser für Améry?
Jean Améry war auch ein Mahner und Mittler: Ich erinnere mich an einen Aufsatz von ihm der im November 1978 erschien: Die herzliche Uneinigkeit. Franzosen und Deutschen fehlt es an elementaren Kenntnisse voneinander. Eine Mahnung, die er an die Pädagogen in beiden Ländern richtete, womit er aber keine Einebnung der Unterschiede meinte, sondern ein Lob aussprach für die „Nuance, die Gefälle, die geistigen Spannungen im dialektischen Feld von gegenseitigem Verstehen, Mißverstehen, Zu-spät-Verstehen.“
Am 29.Oktober 1978 sprach Hans Mayer (1907-2001, > Hans-Mayer-Gesellschaft) seine Gedenkworte für Jean Améry in der Akademie der Künste in Berlin, Seinen „Freund und Doppelgänger“ (Gesamtausgabe, Band 9, 568): „Von Büchern, wie sie Jean Améry schrieb, hat ein Leser, der wirklich gemeint war, stets alles zu befürchten. Hier schrieb einer, der sich auskannte. Der wußte, was mit Worten wie Unfreiheit und Folter, Ohnmacht und Terror, aber auch wie Freiheit und Solidarität nur unzulänglich beschrieben werden konnte.“ (9,569)