Ray Monk gelingt es mit dieser Biographie, die Entwicklung des Denkens von Ludwig Wittgenstein exakt nachzuzeichnen und den Leser am Handwerk des Genies teilhaben zu lassen. Lassen Sie sich nicht von dem Umfang dieses Buches entmutigen: Man muss sich darauf einlassen und wird durch faszinierende Einsichten, wie philosophische Erkenntnis, immer ganz hart am wirklichen Leben gestrickt, im Kopf von Wittgenstein entsteht, belohnt Und die Erinnerungen an seine vielen Freundschaften, die vielen Berichte über stundenlange, ja tagelange- und wochenlange Gespräche, der Austausch, der ihm so wichtig war.
Die Anekdote, die immer wieder kolportiert wird, erinnert an sein Rigorosum am 18. Juni 1929, als er nach der Prüfung seinen beiden Prüfern auf die Schulter klopft und sie tröstet: „Keine Sorge, ich weiß, ihr werdet es nie verstehen.“ (S. 289) Nein, Überheblichkeit war das nicht, eher vielleicht ein Hinweis darauf, dass der Kandidat selbst sein Werk den größten Zweifeln abgerungen hatte. Philosophie als ständiger Prozess, den seine Notizbücher, dieser ungeheure Nachlass aufbewahren.
„Philosophie ist der Versuch, sich von einer bestimmten Art von Verwirrung zu befreien,“ (S. 310) erklärte Wittgenstein in seinen Vorlesungen und kehrt immer wieder zur Sprache zurück, so wie als wenn er einen Werkzeugkasten für die Philosophie aufklappen würde: „Die Grammatik ist ein Spiegel der Wirklichkeit.“ (ebd. und vgl. S. 320 f.). Kein Wunder, dass auch die Mathematik zu einem Grundpfeiler seiner Philosophie wurde: „Bin mir über das Wesen der Mathematik unklar, so kann mir kein Beweis helfen. und bin ich mir über das Wesen der Mathematik im Klaren, so kann die Frage nach der Widerspruchsfreiheit überupat nicht entstehen,“ lautet ein so typischer Satz Wittgensteins.
Das ständige Umbauen, Neuschreiben, Erweitern und Kürzen, Zerschneiden und Neukomponieren seiner Manuskripte sind der beste Beleg dafür, wie Wittgenstein allen, die seine Manuskripte zum Lesen bekamen, sehr viel abverlangte. Ray Monk gelingt es mit seiner Biographie, dem Leser einen Weg durch dieses völlig undurchdringbare Dickicht zu bahnen, in dem er die Lebenstationen Wittgenstein nachzeichnet, wie er z. B. das elterliche Erbe aufgibt und es seinen Geschwistern überlässt.
Philosophie als „endloser Klärungsprozess“ (S. 345). Das ist keine Ausrede, um die eigentlich unbezwingbaren Berge von Notizen in den Griff zu bekommen, sondern die Bemerkung zielt auf sein Denken, mit dem er an Schopenhauer erinnert, der gesagt habe, „ein philosophisches Buch mit Anfang und Ende sei ein Widerspruch in sich.“ (S. 345)
„Die Ereignisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie die Beulen, lassen uns den Wert jeder Entdeckung erkennen,“ heißt es in den Philosophischen Untersuchungen.
Das Kapitel 24 „Aspektwechsel“ enthält Bemerkungen über Wittgensteins letzte Vorlesungen 1947. Es geht um innere Bilder, wie die Perspektive des Blicks auf bestimmte Dinge zu ändern und Wittgenstein stützt sich dabei auf Köhlers Gestalt Psychology von (1929), aus dem, so berichtet Monk, er vor seinen Vorlesungen häufig vorlas. In Paris hatte Sartre gerade seine Abschlussarbeit an der École Normale Supérieure abgeschlossen, in der er über das Denken der Bilder aufgrund eines langen Aufsatzes von Auguste Flach (Würzburg) nachdachte, um daraus seine Ästhetik zu entwickeln (vgl. H. Wittmann, Sartre et la liberté de la création: l’art entre la philosophie et la littérature. in : G. Farina, M. Russo, (Hg.), Sartre et l’arte contemporanea. Immagini e imaginari, dans: Gruppo Ricerca Sartre, > Studi Sartriani, Anno XV / 2021, S. 83-102, bsd. S. 92 f.) Diese Parallele ist eine gute Gelegenheit an Wittgensteins Ausführungen über die Ästhetik zu erinnern. Er hatte seinen Studenten das Mitschreiben untersagt, aus Frucht, die Notizen könnten veröffentlicht werden. Gut dass Cyrill Barrett sich an diese Vorgabe nicht gehalten hat und seine Mitschriften veröffentlicht hat: Ludwig Wittgenstein > Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion, Göttingen 1968: auch hier wird man sich nicht wundern: Das Schöne wird in Frage gestellt und die ästhetische Erkenntnis wird als ein Prozess gedeutet.
Heiner Wittmann