Im Zentrum dieser „woken“ Debatten steht das Konzept der Identität, das Tonio Hölscher in seinem Essay »Identität über alles? Von der Gegenwart zur Antike und zurück« auf seine Tragfähigkeit für die heutigen Debatten untersucht. Als klassischer Archäologe und somit Historiker, der mit den Altertumswissenschaften bestens vertraut ist, fragt er hier: „… was man mit Begriffen und Kategorien in der Geschichte anrichtet und wie man mit ihnen in der Gegenwart zurechtkommt.“ (S. 8)
Dient heute der Begriff der Identität dazu, das Selbstverständnis und den Zusammenhalt von Gemeinschaften „mit imperativer Zuversicht“ zu beschreiben (vgl. S. 12, S. 13), so wurde er bei der Erforschung historischer Gesellschaften als „Schlüsselbegriff für kulturelle, soziale und politische Gemeinschaften“ (S. 13) verstanden. Bedeutungsverschiebungen wären an sich nicht bedenklich, wenn der Begriff der Identität heute nicht einem „inflationäre[n] Gebrauch“ und „emphatische[r] Selbstbezogenheit“ unterliegen würde und damit „allumfassend und nichtssagend“ geworden wäre. (S. 15) Der Vorwurf wiegt schwer, aber er trifft, wie Hölschers folgende Untersuchung beweist, ins Schwarze.
„Geschichte“ versteht Hölscher „als Grundlegung und Begründung der eigenen gegenwärtigen Existenz,“ (S. 18) und leitet daraus eine einleuchtende Vorsicht her, Begriffe nicht einfach mit neuem Inhalt zu füllen, da so auch die Vergangenheit umgedeutet und damit verkannt werden könnte. Die Abkoppelung von Bedeutungsinhalten führt aber dazu, dass ein genau entgegengesetzter Effekt eintritt, statt Zugehörigkeiten zu präzisieren, werden diese nun oft mehr verschleiert als erklärt (vgl. S. 27); ein Eindruck, der auch durch die Reduzierung auf einige wenige eindimensionale Identitäten verursacht wird. Außerdem übergeht der neue oder selektive Identitätsbegriff die Frage, ob es sich um ein „allgemeines Fundament menschlicher Existenz“ oder lediglich um ein „historisch spezifisches Phänomen (…) einzelner Gesellschaften“ (ib.) handelt. Dazu ist auch anzumerken, wie Hölscher das Leben in vormodernen Gesellschaftsformen beschreibt, die sich nicht als „Identitäts-Gemeinschaften mit starken Bedingungen der Zugehörigkeit, sondern als vorgegebene kontingente Lebensgemeinschaften mit gegenseitiger Verantwortung verstehen.“ (S. 32) Also bedeuten die heutigen Identitäts-Zuschreibungen, Einengung und gar auch Verlust von Autonomie wie auch Bevormundung.
Die Zuweisung aktueller Identitäten übergeht den Prozess, wie sich in der Geschichte aus kulturellen Umgebungen heraus Identitäten ausbildeten. (vgl. S. 39 ff.) Ein hochkomplexer Vorgang, der in „emphatischer Weise“ (S. 43) zu einem Selbstbewusstsein führt und keinesfalls so wie heute einer von der Gruppe beschlossenen Definition von Zugehörigkeit entspricht. Das heute erkennbare auch gefährliche „Potential des Ausschließens“ (S. 48) war früher bei der Herausbildung von Identitäten gar kein Thema. Identität bedeutet, so Hölscher, „sich selbst gleich sein und seinem Wesen treu bleiben.“ (S. 51) Es bleibt den Verfechtern der Identitätsdebatte von heute eigentlich nur der Ausweg, sich einen neuen Begriff zu suchen.
Das historische Fundament (vgl. den wissenschaftlichen Anhang, S. 133-149), auf dem Hölschers Analyse ruht, ist beeindruckend. Identifiziert man Akteure, ihre materielle Kultur und ihre Praktiken sei noch nichts für die Herausbildung ihrer Identität gewonnen, so Hölscher, (vgl. S. 68), zumal die individuellen Menschen ganz unterschiedlichen Gruppierungen angehörten. (vgl. S. 74).
Ein weiterer Aspekt hinsichtlich des Entstehens von Identitäten findet sich beispielsweise im Gegensatz zwischen Athen und Sparta, wo „eine neuartige patriotische Identität“ immer wieder zu Kriegen führte. (vgl. S. 99, auch S. 119). Und Hölscher fasst zusammen: „… immer sind Identitäten kulturelle Konstrukte.“ (S. 113) Wenn er die Frage stellt „Wie förderlich ist die Kategorie der Identität für das Verständnis von Gemeinschaften?“ wird deutlich, dass die Beantwortung dieser Frage keinesfalls ausreicht, um Gemeinschaften verstehen zu können. „Identität und Alterität [sind] (…) keine vorgegebenen Tatsachen oder Zustände, sondern mentale Konstrukte, die von Menschen geschaffen sind und von ihnen verantwortet werden müssen.“ (S. 120). Identitäten sind also auch Interpretationen, die sich auch an den Interessen von denen orientieren, die sie definieren und Ausdruck einer „Selbstbezogenheit“ (S. 125) sind.
Hölschers Zusammenfassung: „Als Leitbegriff kollektiver Selbstbezogenheit ist Identität das Gegen-Konzept zur Solidarität.“ (S. 128)
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Heiner Wittmann