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Lesebericht und Interview: Jakob Thomä, Der Kill-Score. Auf den Spuren unseres ökologischen und sozialen Fußabdrucks

Aufgezeichnet von Heiner Wittmann
4.11.2022
Es soll ja immer noch Zweifler geben, ob das alles mit den Vorhersagen in Sachen Klimaveränderung so seine Richtigkeit hat. Auch die Politik tut sich schwer, wirklich über den Zeitraum bis zu den nächsten Wahlen hinauszugucken und die Weichen entsprechend zu stellen. Immer wieder, so auch in Frankreich, werden die Bürger zusammengerufen, um neue Ziele angesichts der drohenden Klimakatastrophe zu formulieren. Überflutungen und Waldbrände oder der fast leere Rhein sind Vorboten für das, was wohl auf uns zukommt. Da wird in der Klimakrise immer wieder um den Kohleabbau gerungen, Prognosen für dessen endgültige Schließung anvisiert, anstatt diese CO2-Schleuder jetzt endgültig einfach stillzulegen. Irgendjemand muss den ersten Schritt machen, nicht erst in ein paar Jahren.
Lesebericht und Interview: Jakob Thomä, Der Kill-Score. Auf den Spuren unseres ökologischen und sozialen Fußabdrucks
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In dieser Situation erscheint der Band von Jakob Thomä »Der Kill-Score« mit dem Untertitel »Auf den Spuren unseres ökologischen und sozialen Fußabdrucks«. Gemeint sind die schädlichen Spuren, die unser Verhalten in der Umwelt hinterlässt. N. B. das sind keine bloßen Zahlen, unser Fußabdruck kann gemessen und bewertet werden. Je nachlässiger wir mit den hinterlassenen Spuren umgehen, je weniger wir uns darum kümmern, je sorgloser wir den CO2-Emissionen umgehen, je mehr Menschen kostet das ihr Leben. Das ist nicht die These dieses Buches, der Tod der Mitmenschen als Folge umweltschädlichen Verhaltens ist gemäß Thomä Fakt, das sich nicht wegdiskutieren lässt.

Sicher man könnte den Eindruck gewinnen, Thomäs Berechnungen seien bloße Gedanken- und Zahlenspiele , dann würde man sich aber schon unter die Klimazweifler eingereiht haben, die sich um die Folgen unseres Verhalten nicht kümmern und alle Klima-Vorhersagen in Bausch und Bogen für Dummheit halten.

Viel ist über die drohende  Klimakatastrophe geschrieben worden: "Luisa Neubauer, Bernd Ulrich: Noch haben wir die Wahl. Ein Gespräch über Freiheit, Ökologie und den Konflikt der Generationen", das auch die letzten Zweifler hätte aufwecken müssen. Mit diesem Buch hält Thomä uns die Folgen einer Politik oder unseres Verhaltens vor: „Zahlen als Hammer… , um den moralischen Imperativ des Handelns ins Gewissen der Menschen zu nageln.“ (S. 15) Und er fragt zu Recht, warum „Erbsenzählen und die gelebte Wirklichkeit“ soweit auseinanderklaffen? (S. 17) Kein Wunder: Die Klimaforschung habe ein PR-Problem. Die Dramatik des zu erwartenden Geschehens oder der bereits eingetretenen Klimakatastrophe wollen viele einfach nicht wahrhaben.

Der Fußabdruck Deutschlands im Jahre 2021: 762 Millionen Tonnen Treibhausemissionen. (S. 20) Wenn unsere Zeitgenossen diese Zahl hören, kann sich kaum jemand etwas darunter vorstellen und einen Handlungsbedarf löst die Zahl anscheinend schon gar nicht aus. Zahlen über Zahlen, und man hat die Menschen aus dem Auge verloren: Was machen sie mit den Zahle? Sie sterben daran. Es gibt Stimmen, dass jeder Menschen mit seinem Fußabdruck in seinem Leben mindestens am Tod eines anderen Menschen verantwortlich sei.

Und Thomä zeigt uns die Tatorte: Klimawandel, Abfall und Abgase, Arbeit, anonymer Konsum, Krieg und Konflikt: S. 50 ff. Und bei jedem Tatort kommen weitere Umstände, Fakten und Krisen mit dazu. Thomäs Prognose ist beunruhigend. Sein Kill-Score rechnet mit einer Milliarde Menschen, die in diesem Jahrhundert an diesen fünf Tatorten ihr Leben lassen werden. Nun, man kann die Haltung haben, das betrifft mich eh nicht, oder aber eine Vorahnung oder ein Gefühl dafür entwickeln, dass wir für diese Entwicklung heute eine moralische Verantwortung tragen.

Das dritte Kapitel erläutert die Wissenschaft des Kill-Score. Ihr ganz wesentlicher Bestandteil ist die Attributionsforschung (bsds. S. 61-65), die das Potenzial des Kill-Score aufdecken kann. Wer ist für welche Handlungen verantwortlich? lautet die Frage und um sie zu lösen werden ganz unterschiedliche Szenarien durchgespielt, um die Verursacher herauszufinden, zu quantifizieren und zu beurteilen, zu verurteilen. Man wird sich wohl nicht wundern, dass eine Erkenntnis als Ergebnis solcher Forschungen ist, dass extreme Hitzewellen durch menschliches Verhalten hervorgerufen werden.

Das 4. Kapitel untersucht die Tatorte und erläutert, wieso die „Waffe Kohlendioxid“ so tödlich wirken kann: S. 83 f. :“Wir ertrinken, verbrennen, vertrocknen, verarmen in einer unwirtlichen Welt.“ (S. 85) Nochmal die Zahlen 4434 Tonnen CO2 verursachen einen Toten mehr… Nur Zahlen? Egal, wie hoch sie sind, unser Fußabdruck hinterlässt nicht nur Spuren, sondern Tote. Viele Firmen lassen ihren Fußabdruck analysieren. Aber zum Teil sei das, so Thomä, nur PR-Klamauk, weil so richtig effektive und nachhaltige Handlungen nicht folgen würden.

Das 5. Kapitel über der Abfall vermittelt uns einen ganz neuen Blick in unsere Mülltonne: „Abfall ist ein wesentlicher Teil des Naturkreislaufs“ (S. 106). Wenn Sie dieses Kapitel gelesen haben, werden sie endlich mit der Mülltrennung anfangen.

Das 6. Kapitel über die Arbeit tischt uns noch mehr unliebsame Botschaften auf. Der Tod durch Überarbeitung: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) vermutet 745000Tote und damit 1 Prozent der Toten jährlich weltweit.

Der anonyme Konsum, wie die Vereinsamung töten. Und das erinnert mich wieder an Richards Sennetts Studie: The Fall of Public Man. Und damit sind wir auch bei den Sozialen Medien, die sich durch ganz und gar Regeln, die so wenig sozial sind, und Anonymität auszeichnen: Stadtplanung und soziale Netzwerke im Web 2.0 (I-IV) – 9. Januar 2017. „Wir üben Gewalt aus, indem wir uns der Welt verweigern,“ lautete die düstere Zwischenbilanz des Autors. Thomä will uns zum Nachdenken bringen: Welche unserer Handlungen töten Mitmenschen oder lösen Konflikte aus. Das ist eigentlich Stoff für ein eigenes Buch: Klimawandel und gewaltsame Konflikte: Gwynne Dyer, Schlachtfeld Erde. Klimakriege im 21. Jahrhundert  (leider vergriffen). Der "Kill-Score geht" davon aus, „dass Handlungen Folgen haben“ (S. 181)

Im dritten Teil kommt es zur Gerichtsverhandlung und dem Urteil. Aufpassen, Verantwortung deutet auch daraufhin, dass man den Tod eines Mitmenschen in Kauf genommen hat. Das rückt Fahrlässigkeit auch in die Nähe des erhöhten CO2-Fußabdrucks (vgl. S. 204 f.): „Mord aus Herzlosigkeit“. Stichworte, Klimawandel, soziale Nöte, Kriegsfolgen, sagen wir Klimaflüchtlinge, wenn wir die Toten im Mittelmeer zählen? Anstatt vor Ort wirksam zu helfen? Ein langes Kapitel ist der Verteidigung gewidmet, die aber nicht so recht wirken kann, denn Thomä hält daran fest: „Jeder, der in der westlichen Welt lebt, hat seine Kill Score.“ (S. 221) Man kann noch allerlei juristische Überlegungen anführen, wie die „fahrlässige Überlassung“ (S. 226 f.). dann sind wir wieder bei der Verantwortung.

Und dann das Urteil S. 231 ff. U. a. die ernüchternde Feststellung: „Wir sind offensichtlich nicht fähig, die schlimmsten, tödlichen Folgen unseres ökologischen und sozialen Fußabdrucks angemessen zu vermitteln.“ (S. 248)

Wie kann man diesem Desaster, dass mit Ansage auf uns zukommt Herr werden. Sicher nicht, indem man auf die Politik wartet, die ihrerseits nur auf das Datum der nächsten Wahl guckt. jJeder muss für sich selber und alle anfangen: > Dimanche, 24 janvier 2021, 19 h : Nachgefragt: Professeur Lahkim Azelarabe Bennani parle sur Albert Camus, La Peste: „Der Journalist Rambert (aber er ist kein Querdenker im heutigen Sinne) zögert und möchte die Stadt verlassen, er wird aber von Rieux überredet, in der Stadt zu bleiben; als er nachgibt, erklärt er dem Arzt seinen Standpunkt: „…man kann sich schämen, alleine glücklich zu sein“. Ein Schlüsselsatz des Romans?“ Auf jeden Fall eine Aufforderung an uns alle, soziale Verantwortung auszuüben und bei jeder unseren Handlungen, nicht nur uns selbst, sondern die Folgen für unsere Mitmenschen in den Blick zu nehmen.

Heiner Wittmann

Der Kill-Score

Auf den Spuren unseres ökologischen und sozialen Fußabdrucks

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Beteiligte Personen

Jakob Thomä

Jakob Thomä, geboren 1989, ist Geschäftsführer und Mitbegründer der Theia Finance Labs und diverser Nachhaltigkeitsinitiativen, u.a. MeinFairMö...

Jakob Thomä, geboren 1989, ist Geschäftsführer und Mitbegründer der Theia Finance Labs und diverser Nachhaltigkeitsinitiativen, u.a. MeinFairMögen, PACTA, Inevitable Futures und 2° Investing Initiative. Zudem lehrt er als Professor in Practice an der SOAS in London. 2022 erschien sein Buch »Der Kill-Score« bei Klett-Cotta. Er lebt in Berlin.