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Lesebericht: Kate Summerscale, Das Buch der Phobien & Manien

Verfasst von Heiner Wittmann
6.12.2023

Wer hat sie nicht? „Alle Phobien und Manien sind gesellschaftliche Phänomene,“ erklärt Kate Summerscale in der Einführung zu ihrem Buch »Das Buch der Phobien & Manien« mit dem Untertitel „Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen“. Es können Vorurteile sein, Marotten, Modeerscheinungen oder einfache Scherze. Viele Phobien in diesem Band sind aber auch ganz ernsthaft mit großen Leiden verbunden und gehören zu den Angststörungen. Unsere Manien sind Obsessionen oder Verrücktheiten, „die uns bei Verstand halten, indem sie unsere Ängste und Vorlieben kristallisieren und uns erlauben, weiterzumachen, als ergebe alles andere einen Sinn.“ (S. 11). Die lesenswerte Einführung bringt den Inhalt dieses Buches geschickt auf den Punkt: „Eine Phobie oder eine Manie wirkt wie ein Zauber. Sie versieht einen Gegenstand oder eine Handlung mit einer geheimnisvollen Bedeutung und gibt ihnen die Macht, uns in Besitz zu nehmen und zu verwandeln.“ (S. 16). Dann folgen Hinweise zur Benutzung, die die hier vorgestellten Phobien und Manien einordnen und katalogisieren.

Lesebericht: Kate Summerscale, Das Buch der Phobien & Manien

Jede/r, die/der dieses Buch in die Hand nimmt, wird bestimmt zuerst die Phobie oder Manie nachschlagen, die zu ihr/ihm passt. Oder die wir bei anderen zu beobachten glauben. Und bei manchen Einträgen entdeckt man die Beschreibung einiger mehr oder weniger bekannten Verhaltensweisen, die erstaunlicherweise auch unter die Manien fallen. Manch einer fliegt nicht gerne, das sei dem Menschen eine nicht angemessene Art der Fortbewegung, und verzichtet lieber auf eines der sichersten Transportmittel: Aerophobie nennt man die Flugangst. Andere meiden große Plätze: Agoraphobie, die sich bis zur Angst vor sozialen Kontakten steigern kann.

Die Bibliomanie, die Flaubert 1837 beschrieb und die als Begriff seit 1734 belegt ist, ist mir wohlvertraut und erklärt auch das Unverständnis gegenüber Zeitgenossen, die Bücher wegwerfen können. Seltsamerweise passiert es immer wieder, dass nach der Trennung von einem Buch, dieses kurz darauf wieder benötigt wird.

Ganz harmlose Verhaltensweisen wie die des Flaneurs können sich zur Dromomanie auswachsen, das zwanghafte Weglaufen … es ist gar nicht einfach zu definieren, ab wann so ein Verhalten behandlungsbedürftig wird. Bei der ausgeprägten Egomanie, erstmals 1825 beschrieben, ist das vielleicht einfacher, wobei dieser Ausdruck auch als Disqualifizierung anderer beschrieben wird.

Manchmal handelt es sich auch um Wortspiele: Eibohphobie, die Angst vor Palindromen, ist selbst ein Palindrom. Die Ergophobie als Angst vor der Arbeit erinnert an die Prokrastination, die doch eigentlich auch eine Manie ist: Nie war meine Wohnung sauberer, berichtete eine Bekannte, die mit der Frist ihrer Examensarbeit haderte.

Heikel wird es mit ausgeprägten sozialen Phobien: Gelotophobie beschreibt die Angst, ausgelacht zu werden, die manchem aus der Schulzeit bekannt sein dürfte. Angst vor dem Kontakt mit Anderen kann auch zu einer Glossophobie führen und das Sprechen vor einer Gruppe erschweren. Manchmal dienen Bezeichnungen für Manien wie Graphomanien auch dazu, andere herabzustufen.

Hippopotomonstrosesquippedaliophobie, die Angst vor langen Wörtern, ist wohl eher ein Scherzwort. 

Klaustrophobie ist die bekannteste aller Phobien, der Agorophobie ganz ähnlich.

Ist »Das Buch der Phobien & Manien« eher ein Nachschlagewerk oder ein Kompendium unserer mehr oder weniger sozialen Empfindungen, Beweggründe oder Ängste? Und dabei sind beide, Phobien und Manien, keineswegs immer nur in ihren reinen Formen anzutreffen, die mit den hier dargelegten Erscheinungen vollständig kongruent sind. Fehlt die Angst, kommt es zu gar keinen Phobien, und das ist auch wieder nicht ok, weil man dann von einer Hypophobie spricht, die es als Begriff seit 1994 gibt. Sie beschreibt die Unfähigkeit, Angst zu erleben. Also gehört eine Manie in irgendeiner Form zu jeder/m dazu? Bestimmt gilt das für die Nomophobie, die so manch eine/n nur mit gesenktem Kopf, die Augen fest auf das Display geschraubt, durch die Stadt gehen lässt: „No-mobile-phone-phobia“, die zum Beispiel einem Schüler so recht plastisch ins Gesicht geschrieben steht, wenn ihm im Unterricht das Handy abgenommen wird. Es gibt auch eine ausgeprägte Angst, das Handy zu verlieren, oder gar nur einige Momente offline zu sein, so ganz also ob man in diesen Momenten nicht mehr existieren werde, da man sein soziales Netzwerk nicht mehr updaten kann und dann schnell out ist. Summerscale weist im Fall der Nomopobie darauf hin, dass sie mittlerweile weniger als pathologisch, sondern vielmehr als eine Art „verständlicher Sorge“ (S. 212) empfunden wird. Man müsste jetzt nochmal alle Einträge daraufhin durchgehen … inwieweit welche pathologischen Verhaltensweisen wann in soziale Gewohnheiten übergehen. Das gilt zum Beispiel auch für die Oniomanie, der Kaufrausch, der wohl oft (noch) nicht mit dem Spaß am Shoppen-Gehen erklärt werden kann.

Zu den sozialen Störungen gehört in einer gewissen Form auch die Sedatephobie, die Angst vor der Stille. Also muss ein Headset her, um sich dort bewegen zu können, wo es still ist. Wird diese Phobie von der Klaustrophobie überlagert, kann man sich vorstellen, wie stark Menschen unter derartigen Phobien leiden, zumal es wirklich kompliziert ist, eindeutige Diagnosen zu treffen. Unsere komplexe Welt fördert Phobien und Manien und das tägliche soziale Leben setzt dem wenig entgegen. Die soziale Phobie ist ganz bestimmt vielen aufgrund täglicher Erlebnisse in irgendeiner Form mehr oder weniger bewusst, aber dennoch reicht die soziale Phobie noch weiter und kann verstärkt werden, wenn man Garcin aus Die geschlossene Gesellschaft zitiert, der erklärt, die Hölle, das seien die anderen.

Und dann gibt es noch die Syllogomanie, das Horten von Sachen … wobei es nicht ganz einfach zu definieren ist, wann sie wirklich anfängt.

Nach der Lektüre habe ich entschieden: »Das Buch der Phobien & Manien« ist weniger ein Nachschlagewerk denn ein kluges Buch über unsere Anfälligkeiten aufgrund sozialer Umstände, die nicht sachgerecht eingeordnet werden können; über Menschen, die dadurch in Schwierigkeiten geraten oder Probleme bekommen. Es gibt bestimmte Phobien, die vornehmlich gestörte soziale Beziehungen beschreiben, das sind Fehlentwicklungen, die es in den Blick zu nehmen und zu vermeiden gilt.

Heiner Wittmann

Das Buch der Phobien und Manien

Eine Geschichte der Welt in 99 Obsessionen

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Beteiligte Personen

© Fran Monks

Kate Summerscale

Kate Summerscale, geboren 1965, Bestsellerautorin wurde für ihre Bücher mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: u.a. dem Samuel-Johnson-Pr...

Kate Summerscale, geboren 1965, Bestsellerautorin wurde für ihre Bücher mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: u.a. dem Samuel-Johnson-Preises für Sachbücher 2008, dem des Galaxy British Book of the Year Award und dem Somerset Maugham Award. Sie lebt im Norden Londons.