Allzu häufig verbindet man Piagets Werk ausschließlich mit seinen Untersuchungen über die Entwicklung der Invarianzbegriffe im kindlichen Denken. Sie sind ohne Zweifel grundlegend, denn sie erlauben dem Menschen, im Wechsel der Erscheinungen das Unveränderliche zu sehen: unveränderliche Mengen der Substanz, des Gewichts oder des Volumens, wenn Flüssigkeiten in Gefäße von verschiedener Form gegossen oder plastische Materialen verformt werden, und unveränderliche Zahlen von Gegenständen, auch wenn deren Anordnung verändert wird. So erwächst das physikalische und das numerische Denken des Kindes. Ebenso wichtig aber ist die Entwicklung seiner Raumvorstellung. Denn letztlich finden alle physikalischen Phänomene ihren Ort in einem Raum, auch wenn dieser für den modernen Menschen nicht mehr bloß die drei senkrecht aufeinander stellenden Dimensionen des naiven euklidischen Raumes umfasst.
Wie bildet das Kind seinen Raumbegriff aus? Kann man überhaupt von dem Raumbegriff des Kindes sprechen? Von dieser Frage geht Piaget im vorliegenden Werk aus. Die Antwort ist eindeutig: Den kindlichen Raumbegriff gibt es nicht. Wir müssen die kindliche Raumvorstellung als das Insgesamt seiner räumlichen Beziehungsvorstellungen verstehen, und diese unterliegen im Verlaufe der Entwicklung einem fundamentalen Wandel.
In der Wahrnehmung und im konkreten Tun entwickelt das Kind schon früh Verhaltensweisen, die vielen räumlichen Gesetzen und Zusammen-hängen Rechnung tragen. Die „Konstanzen" der Gesichtswahrnehmung stellen die vollkommensten Mechanismen dieser Art dar: Auch wenn das Kind einen Würfel vor seinen Augen dreht und wendet und dabei seine Abbildung auf der Netzhaut dauernd verändert, sieht es doch ständig den gleichen Würfel von konstanter dreidimensionaler Form: eine großartige Leistung der laufenden Verarbeitung von sich wandelnden Sinnesreizen.
So arbeitet die Wahrnehmung. In der Vorstellung aber sehen die Dinge anders aus. Wenn wir das gleiche 3- oder 4jährige Kind bitten, den Würfel zu zeichnen, so liefert es höchst unbeholfene Darstellungen. Es sind nicht nur Probleme der Perspektive, die es nicht zu lösen vermag. Auch wenn wir es bitten, ein Quadrat abzuzeichnen, kommt etwas anderes heraus: wahrscheinlich eine kreisartige, geschlossene Kurve, an der die vier Ecken, wenn es gut geht, als vier fadenartige Anhängsel angedeutet sind.
Jean Piaget (1896 – 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie de...
Jean Piaget (1896 – 1980) gilt als bedeutendster Entwicklungspsychologe des 20. Jahrhunderts. Sein Werk erweist sich als eine umfassende Theorie der Entwicklung des Erkennens, Denkens und Wissens, dem aufgrund des nachhaltigen Einflusses auf die Pädagogik, Psychologie und Erkenntnistheorie der Status eines Klassikers der Humanwissenschaften zukommt.
Zusatzmaterial: >> chronologische Bibliographie der veröffentlichten Werke von Jean Piaget:
https://www.klett-cotta.de/medi...
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