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Lesebericht und Interview: Thomas Oberender

Empowerment Ost
2.1.2021

Die Dicke eines Buches hat mit dem Gewicht seiner Argumente oft nicht so viel zu tun. Hier ist es so: relativ dünn aber umso mehr mit vielen sehr guten Argumenten!  Am 21. Juli 2019 hat Thomas Oberender in der 2015 von Joulia Strauss in Platons Garten gegründeten Avtonomi Akadimia einen Vortrag gehalten, in dem er Erfahrungen vor und nach der deutschen Wiedervereinigung Revue passieren ließ, sie einordnete und bewertete. Der auf Englisch gehaltene Vortrag erschien unter dem Titel „Occupy History. Decolonisation of Memory. The East German Revolution and the West German Takeover“ bei Krytyka Polityczna Athens, 2019, und jetzt auf Deutsch übersetzt von Benjamin Mildner als »Empowerment Ost« mit dem Untertitel »Wie wir zusammen wachsen« bei Tropen.

Lesebericht und Interview: Thomas Oberender
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Auf wenig mehr als 100 Seiten wird hier an die kurze Phase in der DDR vor und nach der Maueröffnung wie vor und nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erinnert, in der Alternativen zu der sich abzeichnenden Wiedervereinigung gesucht und formuliert wurden, die aber im Sog der immer rasanter verlaufenden Entwicklung auch selbst schnell Geschichte wurden.

Oberenders Buch ist eine wohldurchdachte Standortbestimmung, mit der er erklärt, wieso es wieder an der Zeit ist, darüber nachzudenken, welche Folgen die so rapide Verdrängung des Ostens aus dem Osten für den Verlauf  der bundesdeutschen gemeinsamen Geschichte gehabt hat. Es richtet sich an alle, die die Geschichte miterlebt haben, die ersten Demonstrationen in der DDR,  (ich saß Anfang 1990 bei meinen Verwandten in der DDR und die Eltern erzählten von den Demonstrationen vor dem Stasi-Gebäude in R. Ich fragte die Kinder 10 und 12: wo ward ihr? Zu Hause, erklärte die Mutter. Nein, wir waren auch  auf der Demo. Stille im Wohnzimmer. Wir hatten uns vorher nie gesehen, aber wir hatten uns so viel zu erzählen),  den unvermuteten Fall der Mauer, (die Dezembernacht 1989, in der im Nebelregen nachts um 23 h mein Doktorvater und ich -weit und breit niemand anders – außer den DDR-Wachtposten rechts und links vom Tor – auf die Mauer vor dem Brandenburger Tor geklettert waren – wir ganz allein dort oben – , die Grenzposten uns dann rübergingen ließen: Stempel gebe es keine mehr, und bei der Rückkehr 30 Minuten später belehrte er uns, das die Einreise in den Westen auf der Südseite des Tores zu erfolgen hatte, man aber heute eine Ausnahme für uns mache….),  die ersten freien Wahlen bis zu den 10 Punkten von Bundeskanzler Kohl. Es gibt ganz verschiedene Ansichten, zu  welchem Zeit die Bürger der DDR erkannten, dass demnächst die Deutsche Einheit bevorsteht. (Was für aufregende Zeiten, ich habe zu Hause fast jeden Abend „Das war der Tag“ im DLF auf Kassette aufgenommen.) Im Westen war es der beherzte und mutige Griff durch das offene Fenster in einer bestimmten internationalen Konstellation, mit dem Helmut Kohl die Einheit erreichte. Im Osten blieb gar keine Zeit mehr abzuwägen, was man aufgibt, was man bekommt, oder was man vielleicht doch ganz gerne behalten hätte. Schnell stellte sich das Gefühl ein, alles sei in der DDR schlecht gewesen, statt Einheit dachten manche Übernahme.

Diese Buch legt pointierte Bewertungen vor, die die Ereignisse von von dreißig Jahre wieder lebendig werden lassen. Oberender spitzt zu und seine Thesen fordern zur Diskussion heraus. Er wendet sich auch an die folgenden Generationen und erinnert sie an die Ereignisse von 1989, die für sie so weit zurückliegen, wie für uns die Gründung der beiden deutschen Staaten. Und diese unterschiedlichen historischen Erfahrungen lösen abweichende oder neue Bewertungen aus.

Zwei Gefühlslagen beherrschten 1989 u.a. die Bürger der DDR: „Dieses zu uns gelangte Aroma des Westens erzeugte auf magische Weise eine Erfahrung von Freiheit,“ im Gegensatz zum DDR-Staat, „diese Angst, ständig für etwas bestraft zu werden,“ (S. 9) Die Angst schwand und da die Sowjet nicht angriffen, wurden die Bürger sehr schnell mutiger: „Diese repressive DDR war über Nacht ein Phantomstaat geworden,“ (S. 13) notiert Oberender im Absatz, in dem er über den Fall der Mauer berichtet.

Im Nachhinein darf man sich im Westen schon wenig darüber wundern, wieso man damals so unsensibel war… selbst den Bewohnern der DDR ging alles zu schnell oder nicht schnell genug. Zum Nachdenken blieb ohnehin nicht viel Zeit: „Etwas hat sie verletzt, aber sie merkten es kaum.“ (S. 16) Man neigt dazu, diese Bemerkung zu überlesen und merkt das erst, dass Oberender uns hier eine Art Phänomenologie der Revolution von 1989 vorlegt. Wohin das führte? Schon die Wahl des Gedenktages betont die Westperspektive: 9. November ging nicht, der 9. Oktober 1989, die friedliche Demo in Leipzig, wo nicht auf die Demonstranten geschossen wurde, wäre eine interessante Ostperspektive für den Feiertag gewesen. Nun, es wurde der Einheitstag am 3.10., aus Westperspektive der Start fürs (Wieder-)Zusammenwachsen, im Nachhinein für den Osten für so manche der Tag der Übernahme.

Manche später Geborene haben Recht, wenn sie über die Zeit zwischen Herbst 1989 und die Volkskammerwahl im März 1990 (S. 30 ff) staunen: Was für ein Aufbruch, was für Ideen, runder Tisch ab dem 7.12.1989, Aufarbeiten der Verletzungen durch die Stasi, Vision einer gesamtdeutschen Verfassung, dann aber der Sieg der Allianz für Deutschland bei den Volkskammerwahlen im März 1990. Aber schon am 28. November 1989 hatte Helmut Kohl noch nicht einmal drei Wochen nach der Öffnung der Mauer seinen 10-Punkte-Plan im Deutschen Bundestag bekanntgegeben. Was im Westen als Erfüllung des Wiedervereinigungsgebotes des Grundgesetzes gefeiert wurde – aber im Osten „Vor der Öffnung der Mauer sprach niemand, weder in der großen Politik noch im Alltag, über die Wiedervereinigung.“ (S. 47) Nicht gewünscht oder unvorstellbar oder in viel zu weiter Ferne?

Das Wort Abwicklung machte die Runde und je nach politischen Standort wurde mehr oder weniger abgewickelt, aber bei den Bewohnern der DDR, das wird im Nachhinein deutlich, blieb der fade Geschmack zurück alles und sie selbst seien abgewickelt worden. Die Treuhand (vgl. S. 60 ff) und die Schließung hunderter angeblich unrentabler Unternehmen.

Oberender spricht von einer „inneren Zerrissenheit“ und meint damit das Gefühl der ehemaligen politischen Opposition im Osten, von deren Anhänger einige das Gefühl haben, man habe ihnen die Revolution gestohlen. (S. 56 f.) Im Osten entstand zudem das Gefühl zurückgesetzt, unreif zu sein, weil das Führungspersonal für Wirtschaft und Politik weitgehend vom Westen aus in den Osten importiert wurde. Die Folge: Oberender vergleicht den Verlauf der Wiedervereinigung als Blaupause, wie die EU Griechenland geholfen hat: (S. 58) Wie gesagt, über seine Thesen lässt sich trefflich diskutieren. Und dann war das der „enorme Enthusiasmus für die Demokratie“ – war da Naivität mit dabei? (S. 59) Bedenklich mag stimmen: „Der rasante Wandel hat hier eine seltsame Kultur neuer Gehorsamkeit erzeugt – willig im Bereich der neuen politischen Ordnung, unsicher im sozialen Bereich, gedemütigt im Bereich der Wirtschaft…“ (S. 60) Nur wenig, was sich die Menschen in der DDR erarbeitet hatten – Bildung oder Besitzt – hatte nach der Wiedervereinigung noch einen Wert: S. 63. Ein Viertel der Ostdeutschen zogen in den Westen (S. 69). „Die Angst vor Kontroll-, Identitäts- und Besitzverlust“ verhalf der AfD im Osten zu ihrem Aufschwung: S. 71. Die fälligen Neuorientierungen der deutschen Außenpolitik in folgen von Klimawandel und den Veränderungen im internationalen Wirtschaftsgefüge (Stichwort: China) verlangen einen Politikwechsel vom Produktionssystemen zu Erzeugersystemen… die abgebrochenen Gespräche von 1990 bekommen, so Oberender, wieder eine neue Bedeutung (S. 72)

In der folgenden Diskussion präzisiert Oberender in seinen Antworten einige Aspekte wie die Entstehung des rechten Populismus im Osten, S. 91) und seine Erinnerung an die Aktivitäten der Künstlerin Gabriele Stötzer, die sich unerschrocken der staatlichen Bevormundung widersetzte: S. 93-100, oder seine Sicht der Immersion (S. 105 f.), mit der Gegensätze überwunden werden.

Es geht Oberender um eine politische Neuverortung der Geschichte des Ostens. Potentiale wurden fahrlässig übergangen. Beim Ausdenken neuer politischer oder wirtschaftlicher Prozesse angesichts der ökonomischen Sorgen und Bedrohungen unserer Zeit hätten manche Ansätze der politischen Visionäre vom Herbst 1989 bis zur Wiedervereinigung uns auch  heute noch einiges zu bieten.

Empowerment Ost

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Beteiligte Personen

Thomas Oberender

Thomas Oberender, geboren 1966, studierte Theaterwissenschaft und Szenisches Schreiben in Berlin. Freiberufl ich tätig als Dramatiker, Kritiker, Essayist ...

Thomas Oberender, geboren 1966, studierte Theaterwissenschaft und Szenisches Schreiben in Berlin. Freiberufl ich tätig als Dramatiker, Kritiker, Essayist und Publizist. Seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele und Künstlerischer Leiter der Programmreihe Immersion. Zuletzt erschienen: Leben auf Probe (2009) und Haupteingang oder Nebeneingang (2015).